Thierse: „Das Internet ist ein globaler Stammtisch“

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sieht die Demokratie aktuell in einer Krise. Im Gespräch mit pro erklärt er, warum er das Internet für den demokratischen Diskurs für gefährlicher hält als politische Talkshows. Auch die Journalisten sieht er in der Pflicht.
Von PRO
Im Fernsehen wird ein verzerrtes Bild von Politik gezeichnet, meint Wolfgang Thierse

pro: Herr Thierse, wie steht es um die Demokratie in Europa?

Wolfgang Thierse: Die Demokratie in Europa ist in einer Krise und erscheint mir gefährdet durch rechtspopulistische und rechtsextremistische Tendenzen. Bei vielen liegt die Abwendung von der Demokratie in Enttäuschungen, Misstrauen und Verachtung begründet. Dafür ist natürlich auch die sogenannte politische Elite, oder die politische Klasse mitverantwortlich – zu der immer auch die Journalisten zählen. Das sollten sich Journalisten öfter einmal bewusst machen. Weil nicht die Politiker allein ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen, sondern das Bild wird wesentlich durch die Medien geprägt. Die Journalisten vermitteln zwischen dem, was Politiker sagen und tun, und dem, was die Menschen davon wahrnehmen und wie sie ihr Urteil fällen.

Wie kann das Vertrauen in die Demokratie wieder gestärkt werden?

Politiker sollten alle Anstrengungen unternehmen, um für Transparenz zu sorgen, für Verständlichkeit des politischen Handelns und Argumentierens. Das geht hin bis zur Verständlichkeit der politischen Sprache. Jeder Beruf darf einen Jargon ausbilden, eine Fachsprache. Die demokratischen Politiker dürfen es nicht. Denn alle sollen, wenn sie sich ein kleines bisschen Mühe geben, verstehen, was Politiker sagen und tun.

Nach meiner Wahrnehmung sprechen Politiker besonders häufig in Talkshows …

Das habe ich bereits als Bundestagspräsident kritisiert, weshalb ich so gut wie nie dorthin gegangen bin. Die Talkshows sind wirkliche Shows. Da ist Politik Mittel der Unterhaltung. Nur im Bundestag wird es ernst. Dort wird debattiert und die Politiker haben zu entscheiden und dann zu ihren Entscheidungen zu stehen – vor ihrem Gewissen, ihren Wählern und den Bürgern. In den Talkshows geht es um die möglichst schnelle Pointe. Dazu muss der Politiker nachher nicht wirklich stehen.

Was muss getan werden, wenn sich die Arena der politischen Artikulation vom Bundestag in die Talkshows verlagert?

Man muss auf den Unterschied hinweisen und den Zuschauern sagen: Das ist Unterhaltung. Das ist nicht die Normalität, der normale Ernst von Politik. Ihr seid auch nicht politisch, indem ihr in euren Sesseln hockt und Bier trinkt und zuseht, wie die dort quatschen. Da erscheint Politik ganz leicht. Die wirkliche Politik ist klein, grau und hässlich, schweißtreibend und enttäuschungsbehaftet. Es gibt eine systematische Verzerrung der wirklichen Politik durch das Unterhaltungsmedium Fernsehen. Inzwischen ist aber das Fernsehen nicht mehr das entscheidende Medium. Das Internet ist noch etwas viel Widersprüchlicheres.

Wie meinen Sie das?

Im Internet und den Sozialen Medien sind Bedrohung, Verunglimpfung, die Verbreitung extremistischer Inhalte oder die Androhung von Gewalttaten an der Tagesordnung. Die Verletzbarkeit der Würde eines Menschen durch die Sozialen Medien hat eine bislang nicht da gewesene Form erreicht. Sogenannte Hasspostings, die über die sozialen Netzwerke und das Internet verbreitet werden, nehmen stetig zu.

Aber fördert das Internet nicht auch die bürgerliche Teilhabe am politischen Diskurs?

Was da im Internet entstanden ist, ist etwas Dramatisches. Es ist der globale Stammtisch. Früher konnte man in der Kneipe hocken und schwadronieren und auf die da oben schimpfen und sie niedermachen. Das war so eine Art politischer Stuhlgang. Ein Ventil. Danach war der Frust jedoch erledigt. Jetzt findet das alles im Internet statt mit unerhörten Verstärkereffekten und wechselseitigen Bestätigungen. Die politische Kommunikation läuft innerhalb von bestimmten Meinungsgruppen ab. Man liest nicht mehr die Zeitung, wo man unterschiedliche Meinungen sieht und auch Informationen erhält, die man gar nicht gewollt hat. In der Ingroup-Kommunikation des Internets ist man unter sich und bestätigt sich wechselseitig. Die Bestätigung der eigenen Meinung, die Reproduktion der eigenen Vorurteile führt oft zu einer Radikalisierung. Das sind gefährliche Entwicklungen, weil Demokratie von der Informiertheit der Bürger lebt und von der Fähigkeit, sich an der politischen Kommunikation zu beteiligen. Aber an einer Kommunikation, die verschiedene Positionen einbezieht, nicht nur die eigenen. Inzwischen ist die Talkshow fast schon harmlos gegen das, was in den Kommunikationszirkeln des Internets stattfindet.

Wie können Hassrede und Hetze eingedämmt werden?

Das ist juristisch und auch technisch nicht leicht. Dazu muss man eingreifen in das Allerheiligste des Internets. Das ist die Anonymität. Demokratische Kommunikation lebt vom Gesichtzeigen. Ich – Wolfgang Thierse – vertrete diese Ansicht. Nicht ein Anonymus. Mich kann man für diese Ansicht kritisieren. Aber im Schutze dieser Anonymität kann man das Schlimmste von sich geben. Hetzen, menschenverachtende und menschenfeindliche Ideologien vertreten. Es gibt technisch begrenzte Mittel, dort einzugreifen, etwa Seiten zu sperren. Das ist alles sehr aufwendig. An den Kern, dass die Demokratie von der individuellen Verantwortungsbereitschaft lebt, kommen Sie nur sehr schwer heran.

Wer müsste aktiv werden?

Ich wünsche mir, dass die Demokraten – je jünger, je eifriger – im Internet dagegenhalten. Es müssen viele Einzelne widersprechen, ihre Positionen beziehen. Das halte ich für sinnvoll, es kostet aber viel Lebenszeit.

Wie halten Sie dagegen?

Je älter man wird, desto pfleglicher muss man mit seiner Lebenszeit umgehen. Ich werde sie nicht mehr dem Internet schenken, weil ich keine Lust habe, sie anonymen Menschen zu schenken.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Norbert Schäfer. (pro)

Dieses Interview stammt aus der neuen Ausgabe 4/2016 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online.

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