„Systempresse“ ist für ihn kein Schimpfwort

Seit 2007 ist Uwe Vetterick Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“. Eigentlich wollte der gebürtige Greifswalder Theologie studieren. Doch die Friedliche Revolution stellte für ihn die Weichen in den Journalismus.
Von Jonathan Steinert
Uwe Vetterick

Das „Haus der Presse“ in Dresden ist ein idealer Platz, um die Stadt zu beobachten. Auf dem Dach des zwölfstöckigen Hochhauses, zweihundert Meter vom Elbufer entfernt am Rand der historischen Altstadt, gibt eine Terrasse den Blick in alle Richtungen frei: in unmittelbarer Nähe der sächsische Landtag, Zwinger, Semperoper, Residenzschloss, Frauenkirche. In der anderen Richtung das Gebäude der früheren Zigarettenfabrik „Yenidze“ mit seiner markanten Architektur im Stil einer Moschee, weiter entfernt die Höhenzüge entlang des Elbtals.

Das „Haus der Presse“, das Verlagshaus der „Sächsischen Zeitung“, steht mittendrin im Geschehen. Chefredakteur Uwe Vetterick, in Sneakers, Chinohose und hellblauem Poloshirt, hat sein Büro aber nicht hier oben, sondern im Erdgeschoss, gleich neben dem Newsroom der Redaktion. Eingerichtet mit Schreibtisch, Ikea-Sesseln und Beistelltischen. Papier liegt hier keines – Vetterick arbeitet komplett digital und glaubt, dass es seine Zeitung irgendwann auch nur noch in dieser Form geben wird.

Die Außenwände des Hauses sind verglast. „Die Leute können von draußen sehen, was wir hier tun“, sagt er. Als Passant könnte man sogar den Bildschirm im Newsroom studieren mit den Kurven und Zahlen, die anzeigen, welche Online-Meldung der „Sächsischen“ wie oft aufgerufen wurde und wie viele Besucher gerade auf der Website sind.

Im Fokus von Pegida

Transparenz und Nähe zu den Menschen sind für Vetterick wesentlich. Nicht zuletzt wegen der Erfahrungen, die er mit seiner Redaktion während der Pegida-„Spaziergänge“ gemacht hat. Die sogenannten Spaziergänge führten montagabends direkt am „Haus der Presse“ vorbei. Dass tausende Menschen vor den Arbeitsplätzen der Redakteure „Schämt euch, schämt euch“ und „Lügenpresse“ skandierten, sei verstörend gewesen, sagt Vetterick.

Foto: Claudia Jacquemin für Sächsische.de/Sächsische Zeitung
Das „Haus der Presse“ in Dresden, im Hintergrund die historische Altstadt. Seit 1966 hat die „Sächsische Zeitung“ hier ihren Sitz. 2003 bekam das zwölfgeschossige Gebäude eine Glasfassade.

Pegida habe das Stadtbild und die öffentliche Diskussion damals, ab Herbst 2014, dominiert – und die „Sächsische Zeitung“ in Mithaftung für das ganze System genommen. „Wir haben uns immer in einer Beobachterrolle gesehen, aber Pegida hat uns zur Partei in diesem Konflikt gemacht.“

Wie sollte die Zeitung darauf reagieren? Vetterick hat mit seiner Redaktion einige Jahre zuvor ein Motto für das regionale Blatt entwickelt: „Wir suchen das Beste für Sachsen und die Menschen, die hier zu Hause sind.“ Das Beste für die Stadt und die Menschen – darin waren sich die Journalisten einig – wäre es, wenn Pegida sich wieder auflöste.

Dazu wollten sie ihren Beitrag leisten – mit investigativen Recherchen über die Hintermänner der Bewegung und ihre kleinkriminellen Machenschaften sowie durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Menschen, die bei Pegida mitliefen: Wer waren sie und was wollten sie wirklich? Und schließlich unterstützte die „Sächsische Zeitung“ publizistisch jene Initiativen, die sich gegen den polemischen Protest wandten oder ganz konkret dabei halfen, Probleme zu lösen – etwa indem die Zeitung über Menschen berichtete, die sich um Flüchtlinge kümmerten.

In der Folge richtete die Zeitung auch einen Leserbeirat ein, dessen Besetzung jährlich wechselt und der einerseits Einblicke in die Redaktion bekommt, aber auch Feedback an die Journalisten gibt. Insgesamt seien die Leser zufrieden mit dem Blatt, erklärt Vetterick. In Umfragen bewerteten zwei Drittel von ihnen die Zeitung mit den Schulnoten eins oder zwei. „Wir müssen demütig schauen, wo wir Fehler gemacht haben, dürfen uns aber auch nicht von einer Minderheit treiben lassen“, sagt Vetterick.

Eine Kurzfassung des Leitspruchs seiner Zeitung hat er mit großen weißen Buchstaben an der gelben Wand seines Büros stehen. „Suche das Beste.“ Dass das an einen Bibelvers aus Jeremia erinnert, sei „vielleicht kein Zufall“, gibt der Chefredakteur zu verstehen. Zwar sei es nicht sein Vorschlag gewesen, aber er kennt die Stelle dennoch gut.

Traumjob Chefredakteur

Als Jugendlicher hat Vetterick  vor, Theologie zu studieren. In seiner evangelischen Gemeinde in Greifswald erlebt er eine menschliche Zugewandtheit und geistige Freiheit, die er sonst in der DDR kaum kennt. „Die Gemeinde wurde mir zu einer geistigen und dann auch zu einer geistlichen Heimat“, sagt er. Hier entdeckt er den Glauben für sich.

Eine Zulassung zum Lehramtsstudium ist ihm wegen seiner Konfirmation und seiner Mitarbeit in der Jungen Gemeinde verwehrt. Also macht er zunächst eine Lehre zum Hafenarbeiter mit Abitur in Rostock mit dem Ziel, anschließend Theologie zu studieren.

Doch da kommt die Friedliche Revolution dazwischen. Als im Frühjahr 1990 die ersten freien Volkskammerwahlen anstehen, schreibt er mit Freunden Texte über die Kandidaten, die in seiner Heimatstadt antreten. „Schulaufsatz-Niveau“, schmunzelt Vetterick heute über seine ersten publizistischen Gehversuche.

Vor einer Kaufhalle verkaufen die jungen Männer ihre vierseitige Zeitung für ein paar Pfennige – und die stößt auf reges Interesse. Selbst Monate später noch, als Vetterick den Ausflug in den Journalismus längst abgehakt hat. Über das Impressum der Wahl-Zeitung machen Verleger aus dem Westen, die in der Region eine Zeitung gründen wollen und dafür fähige Leute suchen, Vetterick ausfindig.

So kommt es, dass Chefredakteur und Verleger der Emder Zeitung im Plattenbau im Kinderzimmer des damals 21-Jährigen sitzen und ihm ein Praktikum anbieten. Vetterick ist hin- und hergerissen, denn eigentlich hat er ja anderes vor. Doch sein Vater unterstützt ihn dabei, die unerwartete Chance zu nutzen. Und schon nach dem ersten Praktikumstag weiß er: Ich will Chefredakteur werden.

Dieser Traum erfüllt sich 2007, als Vetterick – ohne Studium – nach Stationen unter anderem bei der „Bild“-Zeitung und dem „Tages-Anzeiger“ in Zürich bei der „Sächsischen Zeitung“ anfängt. „Ich habe tausend Gründe, um dankbar zu sein“, sagt er heute über seinen Weg. „Gott ist treu, das habe ich immer wieder erlebt. Wenn sich eine Tür schließt und man trotzdem an ihm festhält, öffnet sich eine andere, eine bessere Tür.“ Heute besucht Vetterick mit seiner Familie eine Gemeinde der Zeal-Church, einer jungen, mitteldeutschen Freikirche, und hat zur Landeskirche „ein dankbares Verhältnis“.

Wie kann eine christliche journalistische Perspektive aussehen?

Vetterick hat kein Problem damit, als Vertreter der „Systempresse“ bezeichnet zu werden. In einem anderen als dem freiheitlich-demokratischen System, über das man sich ungestraft öffentlich ärgern darf, könne er nicht Journalist sein. „Dafür werde ich immer kämpfen“, sagt er. Denn das Gegenteil hat er in seiner Jugend kennengelernt. Vergleiche aktueller Politik mit der Diktatur in der DDR findet er absurd.

Als Chefredakteur einer Zeitung, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, konstruktiv zu berichten und nach Lösungen für Probleme zu suchen, treibt ihn auch die Frage um, was Journalisten aus der Bibel für aktuelle Themen lernen können. Die Jahrtausende alten Geschichten stehen nicht umsonst darin, ist er überzeugt.

Uwe Vetterick, Sächsische Zeitung Foto: PRO/Jonathan Steinert

Zur Person

Uwe Vetterick, Jahrgang 1969, ist in Greifswald aufgewachsen. Ein Praktikum bei der „Emder Zeitung“ ebnete ihm nach der Friedlichen Revolution den Weg in den Journalismus. Er volontierte beim neu gegründeten „Greifswalder Tageblatt“ und der „Emder Zeitung“. Von 1993 bis 2006 war er bei der „Bild“-Zeitung tätig: als Redaktionsleiter für die Neuen Bundesländer sowie als stellvertretender Chefredakteur. Danach gehörte er für ein Jahr der Chefredaktion des „Tages-Anzeigers“ in Zürich an, bevor er 2008 Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“ wurde. Mehrmals wurde er zu einem der Journalisten des Jahres gewählt, einer Auszeichnung des Branchenmediums „Medium Magazin“. Er gehört der Jury des „Stern-Preises“ an (früher: „Nannen-Preis“). Vetterick ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Welche Fragen lassen sich zum Beispiel aus der Geschichte von David und Goliath für den Krieg in der Ukraine ableiten? Und wie können Journalisten sie aufgreifen und nach Antworten suchen? Da sind nicht nur die ungleichen Gegner. Da ist auch ein Gegner, der den Glauben der anderen verhöhnt, da ist eine Rüstung, die zu groß ist, ein großer Bruder, der nichts gegen den Angreifer unternimmt. Für Vetterick ein reicher Fundus an Anregungen, denen Journalisten bei aktuellen Fragen nachgehen können.

Auch die Geschichte von Ruth und Boas steckt für ihn voller Anknüpfungspunkte, um Fragen der Migrations- und Flüchtlingspolitik zu thematisieren. Wer passt sich welchen Regeln an, welche Möglichkeiten haben Migranten, um zu arbeiten, sind Menschen der Mehrheitsgesellschaft bereit, ihre Familien für Fremde zu öffnen?

Es gibt eine große Sehnsucht nach lösungsorientierten Geschichten. Das weiß Vetterick aus Leserbefragungen und den jahrelangen Analysen, die die „Sächsische Zeitung“ über ihre Beiträge anstellt. Gleichzeitig stellt er fest, dass es sowohl bei Lesern als auch in der Redaktion immer seltener die Bereitschaft gibt, eine Vielfalt von Positionen als Bereicherung anzusehen. Die eigene Meinung werde immer absoluter vertreten.

Er prognostiziert, dass Medien zukünftig auf noch engere Zielgruppen zugeschnitten sein werden. „Die Polarisierung werden wir nicht aufhalten können.“ Auch deshalb ist es ihm wichtig, im säkularen Journalismus eine christliche Perspektive einzubringen.

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