Wer das Wort „Straßenkinder“ hört, der hat Bilder im Kopf. Von Kleinkindern, die in Bangladesch, Indien oder Argentinien auf Gehwegen sitzen und betteln, damit sie nicht verhungern. Von zerrissener Kleidung, schlechten Zähnen, ungekämmten Haaren und dreckverschmierten Gesichtern. Wer das Wort „Straßenkinder“ hört, der mag denken, das Thema habe mit Deutschland wenig zu tun. Doch Straßenkinder gibt es auch hier, sogar mitten in den Partyvierteln der Großstädte. Sie schlafen in Abrisshäusern, Zelten, unter Brücken oder auf der Couch von Freunden. Zum Beispiel in Berlin.
„Wir kriegen ein Mädchen!“, ruft ein etwa 20-Jähriger mit weißem Basecap, Baggyhose und Bobmberjacke. Er grinst über beide Ohren. Der junge Mann steht im Eingang einer Ladenfläche an der Warschauer Straße in Berlin, die Tür ist kaum hinter ihm zugefallen, da bricht es schon aus ihm heraus. „Die Leute werden schon sehen, ich werd ein Bombenvater!“, sagt er zu einer Frau, die hinter einer schmalen Holztheke steht und Töpfe mit heißen Würstchen und eine Schale mit Brötchen beaufsichtigt. Bald schon, da werde er in dem Burgerladen um die Ecke arbeiten. „Die nehmen mich, egal, ob meine Akte so dick ist.“ Er hält die Handflächen im Abstand von einem halben Meter auseinander. Er meint sein Vorstrafenregister.
An einem Tisch neben ihm sitzt ein Typ mit lila Haaren und schwarz lackierten Fingernägeln. Er blickt beim Gefühlsausbruch des Kappenträgers kurz auf, widmet sich dann wieder seiner halbfertig gedrehten Zigarette, die er langsam zwischen den Fingern hin und her rollt. Um den Hals trägt er ein schwarzes Lederhalsband, versehen mit zig spitzen Metallstacheln, sogenannten Killernieten. Er lächelt stumm in sich hinein.
Eine junge Frau betritt das Café, grüßt, wendet sich einer Mitarbeiterin mit langen dunklen Haaren und Brille zu und beginnt zu erzählen: „Ich hab’ mein Zelt jetzt aufgebaut.“ Ihr Hals ist tätowiert, die Haare kurz und an den Seiten rasiert. Die Frau mit den langen Haaren nickt. „Brauchst du was?“, fragt sie die Jüngere. „Heute gibt’s Hot Dogs!“
Die Frau mit den Hot Dogs ist Viktoria Utri, Sozialarbeiterin. Ihre Gäste in der sogenannten „Streetworkstatt“ mitten in Berlin sind jene, die viele im Alltag kaum wahrnehmen: Straßenkinder. So nennen sie sich selbst, auch wenn nicht alle hier minderjährig sind. Sie sind jung und ohne festen Wohnsitz. Die meisten von ihnen leben mitten in Berlin, zwischen Alexanderplatz und Warschauer Straße in Friedrichshain, dem Party- und Kneipenviertel der Hauptstadt. Zwischen Clubgängern und Hipstern fallen sie oft gar nicht auf. Selten sind ihre Gesichter dreckig oder die Kleidung kaputt. Sie sind ordentlich angezogen, gewaschen, gekämmt. Nichts unterscheidet sie augenscheinlich vom Durchschnittsberliner oder den Touristen der Hauptstadt. Und doch leben sie ein Leben, das die meisten sich kaum vorstellen können.
Berlin: Mekka der Straßenkids
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl derjenigen, die 2022 auf der Straße lebten auf etwa 50.000. Die Tendez zum Vorjahr: Eindeutig steigend. Genaue Zahlen zu Minderjährigen auf der Straße gibt es wegen der hohen Dunkelziffer und der schweren Erreichbarkeit nicht. Das Deutsche Jugendinstitut geht mithilfe von Hochrechnungen von 37.000 Straßenjugendlichen im Alter bis 27 Jahren aus. Berlin gilt als „Mekka der Straßenkids“, wie Victoria Utri weiß. Allein im Straßencafé des Vereins „Straßenkinder“, für den sie arbeitet, betreut sie im Jahr 600 bis 700 junge Menschen von 13 bis 27 Jahren. 150 von ihnen kommen regelmäßig, um zu duschen, etwas zu essen, sich mit Kleidung zu versorgen oder um sich Hilfe bei Behördengängen zu holen. 90 Prozent, so schätzt sie, sind drogen- oder alkoholabhängig.
Vor acht Jahren kam Utri als Quereinsteigerin zu „Straßenkinder e.V.“, eigentlich ist die gebürtige Österreicherin Erzieherin und Theaterpädagogin. Doch auch in der Sozialhilfe ist sie kreativ, macht etwa Fotoprojekte mit den Klienten. Gleich neben dem Straßencafé betreibt der Verein einen Co-Working-Space, wo die Mitarbeiter unter anderem Workshops anbieten. An den Wänden hängen Fotos, die die Straßenkinder selbst gemacht haben. Porträts in Schwarz-Grau. Die eintönigen Farben werden durchbrochen von Streifen, die durch fluoreszierende Schwarzlichtfarbe auf den Handgelenken, Armen und den Gesichtern der Modelle entstanden sind. „Borderline und Depression“ ist das Thema der Ausstellung.
Krankheiten wie diese sind keine Seltenheit auf der Straße. Ein Drittel der Wohnungslosen bezeichnet den eigenen Gesundheitszustand laut einem Bericht des Bundessozialministeriums als weniger gut oder schlecht. Ein Viertel ist von Suchtkrankheiten betroffen, oftmals in Kombination mit körperlichen und psychischen Leiden.
Auch Utri kennt solche Fälle. Sie hat den Eindruck: Besonders seit Beginn der Coronazeit hätten Depressionen bei den Straßenkids zugenommen. Hilfe zu bekommen, sei oft schwer, selbst mit Unterstützung der Sozialarbeiter. Therapieplätze in Berlin sind ohnehin rar. Obdachlose können sich bei den sozialpsychiatrischen Diensten ihres Bezirks melden, der dann weitervermittelt. Allerdings sind diese Stellen laut Utri „völlig überlaufen“. „Eigentlich müsste ich dort sogar medizinische Unterstützung anfordern können, wenn ein psychotischer Klient bei mir ist“, sagt sie. Das wäre aber aufgrund von Fachkräfte- und Personalmangel in den Stellen undenkbar. Der betrifft auch die Sozialarbeit selbst. Nicht nur „Straßenkinder e.V.“ sucht händeringend nach Mitarbeitern.
Geburten und Abtreibungen miterlebt
So wird Utri oft selbst zu einer Art Seelsorgerin. Besonders bei einem Thema: ungewollten Schwangerschaften. Utri nennt sich selbst im Scherz „die Schwangerenbeauftragte“. Bei vier Geburten war sie sogar dabei, half sogar, die Nabelschnur durchzutrennen.
Da war etwa Lisa (Name geändert), 17 Jahre alt. Lange habe es gedauert, bis sie Utri überhaupt von der Schwangerschaft erzählte. Dann machte sich die Sozialarbeiterin gemeinsam mit ihr auf die Suche nach einem Platz in einer Mutter-Kind-Einrichtung. An Lisas 18. Geburtstag wollten die beiden sich treffen, um gemeinsam einen Kaffee zu trinken. Von unterwegs meldete sich Lisa, sagte, sie habe Schmerzen. Am Ende kamen sie am Alexanderplatz zusammen, fuhren ein Stück mit der Bahn, auf dem Weg zum Ausgang platzte die Fruchtblase. Utri brachte die junge Frau ins Krankenhaus und blieb mit ihr da, bis das Baby auf der Welt war. Es kam fünf Wochen zu früh.
Die zweite Geburt sollte eigentlich gar nicht passieren. Das Mädchen, dessen Namen Utri nicht nennt, lebte in einem zerfallenen Haus und hatte einen Termin für eine Abtreibung gemacht. Utri sollte sie in aller Frühe begleiten: Um 6.30 Uhr stand sie im Schutt der Baracke und weckte die Schwangere. Die brachte nur heraus: „Ich kann das nicht.“ Es war der letzte Tag der Frist für einen Abbruch. Utri sagte: „Wenn du das Kind bekommst, dann stehe ich an deiner Seite. Dann ziehen wir das gemeinsam durch.“
Und so kam es. Bis heute sind die beiden Frauen im Kontakt. Das Kind wurde geboren und am Anfang schien alles in halbwegs gerade Bahnen zu kommen. Mutter und Kind zogen in eine Einrichtung. Doch nach einigen Monaten begann die junge Frau eine neue Beziehung. Der Mann war gewalttätig, sie flog aus der Unterkunft. Das Kind lebt heute bei der Großmutter. Utri arbeitet mit der Mutter daran, dass sie sich wieder selbst um ihren Nachwuchs kümmern kann. Dass sie wieder auf die Beine kommt.
Was die junge Mutter erlebt, ist so etwas wie ein Muster bei weiblichen Straßenkids. „Viele leben in toxischen Beziehungen“, erklärt Utri. Die Männer seien gewalttätig oder verweigerten Verhütungsmittel. Auf Seite der Frauen sei das Wissen um Arten der Verhütung oft gering. Hinzu komme die Sucht und ein mangelndes Bewusstsein für das Risiko, schwanger zu werden. „Ich kenne Frauen hier, die haben schon fünf Mal abgetrieben“, sagt sie. Es ist kein leichtes Thema für Utri. Sie steht den Frauen zur Seite und respektiert ihre Entscheidungen – auch als Christin. Zugleich sagt sie: „Ich leide mit den Frauen mit, wenn sie sich für eine Abtreibung entscheiden.“
Glaube für Straßenkids
Der Verein hat einen weiteren Raum nur wenige Meter vom Straßencafé entfernt angemietet. Es ist ein Ort, an dem zum Beispiel ein Ausstieg aus der Szene besprochen werden kann – ein Beratungsraum. Als Utri ihn an diesem Tag betritt, sitzt ihr Kollege Ruben Mir mit einem pink gelockten Mädchen zusammen, sie sind mitten im Gespräch: „Jesus gehört zu den bestbelegten Persönlichkeiten der Geschichte“, sagt Mir, der auch Theologe ist. Hinter ihm öffnet sich die Tür, ein junger Mann kommt mit frischen Klamotten aus dem Duschraum, einen Plastiksack mit Wäsche in der Hand, die er hier reinigen kann. „Wir unterstützen sie in allem, was sie brauchen“, sagt Utri. Alles, das kann Essen und Kleidung sein, aber eben auch ein Gespräch über Gott oder sogar die monatliche Andacht „Kraftfutter“. Die Sozialarbeiter singen gemeinsam mit ihren Gästen christliche Lieder, es gibt ein Wort zum Tag.
Utri, die Gemeinde und Kirche seit ihrer Jugend kennt, sagt: „Man fragt sich immer: Wie kommt das bei den Leuten an, die noch nie mit dem Glauben zu tun hatten?“ Die Antwort gibt sie selbst: Oft erstaunlich gut. Viele der Kids seien bewegt, ließen sich anfassen von der Musik und den Themen.
„Wir erleben hier keine Wunderheilungen von Sucht, wie man sich das manchmal vielleicht wünscht“, sagt sie und schnipst mit den Fingern. „So läuft es leider nicht.“
Dennoch könne das Gespräch über Glaubensthemen dabei helfen, dass die Straßenkids sich öffneten. „Wir bauen Beziehungen auf“, beschreibt sie ihr wichtigstes Ziel. Um dann am Ende den Weg raus zu ermöglichen. Utri schätzt, dass 50 Klienten pro Jahr den Ausstieg schaffen. Aus eigener Kraft gelinge das aber kaum jemanden. Zu beschäftigt seien die Kids mit dem puren Überleben: Essen besorgen, Schlafplatz organisieren, Kleidung finden, Handy laden.
Aber wie kann es überhaupt sein, dass in einem Land wie Deutschland Minderjährige und junge Menschen auf der Straße landen? Ohne, dass der Staat eingreift? „Schwierige Familienverhältnisse“, sagt Utri. Viele der Kids landeten deshalb in Wohngruppen oder Heimen, blieben dort aber nicht, weil sie mit den Regeln nicht klarkämen oder weil die Bedingungen zu schlecht seien. Und sobald sie 18 Jahre alt würden, sei auch diese staatliche Fürsorge vorbei: „Dann werden sie vom System ausgespuckt.“ Soll heißen: Niemand ist offiziell mehr zuständig. Wer sich nicht selbst um Fürsorge bemüht, der bekommt auch keine.
„Das System ist total überfordert“
Werden Minderjährige auf der Straße aufgegriffen, bringt die Polizei sie in Einrichtungen wie den Jugendnotdienst. Von dort aus werden sie nach kurzer Zeit weitervermittelt – oft in Einrichtungen, wo sie sich noch weniger wohl fühlen als auf der Straße. „Die Stationen sind oft völlig überfüllt“, sagt Utri, und fasst zusammen: „Das System ist total überfordert.“
Was muss sich also ändern? Darauf sagt Utri dasselbe wie Bernd Siggelkow von der „Arche“ (siehe Seite 10): „Prävention. Mehr Lehrer. Mehr Sozialarbeiter an Schulen. Mehr soziale Einrichtungen wie die ‚Arche’ oder unser ‚Kinder- und Jugendhaus Bolle’ im Bezirk Marzahn. Damit die Kids gar nicht erst bei uns landen.“ Dann, da ist Utri sich sicher, wäre ihre Arbeit überflüssig. Und kaum etwas wünscht sie sich mehr.
Und dann gibt es noch Geschichten wie die von Tim (Name geändert). Auch er war obdachlos, kam immer wieder in die „Streetworkstatt“ und schaffte es irgendwann ins Betreute Wohnen. Oft sprach er von seinem großen Traum: U-Bahn-Fahrer zu werden. Gemeinsam setzten sich die beiden an Utris Laptop und absolvierten den Einstiegstest der Berliner BVG. Zwei Mal fiel Tim durch. Beim dritten Mal klappte es. Seit nun einem Jahr macht er die Ausbildung zum Bahn-Fahrer.
„Manchmal kommt er noch zu uns, steht dann mit seiner BVG-Jacke an der Essensausgabe, vor allem, um uns zu besuchen und aus seinem neuen Leben zu erzählen. Ich freue mich so sehr auf meine erste Fahrt mit ihm“, sagt Utri.
Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 2/2024 von PRO – das christliche Medienmagazin. Sie können die aktuelle Ausgabe hier bestellen.