Monica ist eine durchschnittliche Teenagerin an einer typischen amerikanischen Highschool, und sie hat einen Tick: Jesus.
Ihr Zimmer ist voller Bilder eines hübschen blonden Erlösers, manchmal mit Dornenkrone, manchmal ohne. Daneben hängen, wie es bei Teenagern so ist, unzählige ebenso hübsche Filmstars. Manchmal verwischt die Grenze, wer nun eigentlich Jesus ist und wer nur so aussieht.
Als Monica auf Sammy Fabelman trifft, ist sie fasziniert: Er ist Jude (es gibt sie also wirklich!), genau wie ihr größter Schwarm. Sie will ihn küssen und vielleicht auch ins Bett kriegen. Dafür muss der Jude Sammy aber zuvor noch rasch „den Herrn und Erlöser“ in sich aufnehmen. Das ist mit einem hastigen Bekehrungsgebet erledigt, dann kann es auf die Matratze gehen.
So skurril wie diese Begegnung hat man den christlichen Glauben selten auf der Leinwand gesehen. Sie gehört zum neuen Film „Die Fabelmans“, in dem der Regie-Großmeister Steven Spielberg seine Jugend erzählt und wie er die Liebe zum Film entdeckte. Spielberg stellte den Streifen auf der 73. Berlinale vor und wurde mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet. „Die Fabelmans“ ist für sieben Oscars nominiert, darunter auch als bester Film des Jahres.
Das Drehbuch stammt von Spielberg selbst sowie dem Pulitzer-Preisträger Tony Kushner, der für seine Drehbücher zu Spielbergs Filmen „Lincoln“ und „München“ jeweils Oscar-Nominierungen bekam. Beide stammen aus einer jüdischen Familie.
Vieles in „Die Fabelmans“ stimmt mit der Biografie Spielbergs überein, die Namen hat der Regisseur allerdings abgeändert. Spielbergs junger Vater wird (großartig!) gespielt von Paul Dano („Little Miss Sunshine“, „There Will Be Blood“), und wie im echten Leben ist er Elektroingenieur und Computer-Pionier. Die Mutter ist – sensationell gespielt von der vierfach Oscar-nominierten Michelle Williams („Manchester by the Sea“, „Blue Valentine“) – Konzertpianistin.
Stolz darauf, Jude zu sein
Spielbergs Familie gehört im wahren Leben dem orthodoxen Judentum an, im Film könnte man allerdings eher von einem liberaleren Judentum sprechen. Dennoch spielt der Glaube eine große Rolle in der Familie.
Bei den Fabelmans ist man stolz darauf, Juden zu sein, der Film steigt mit einer gemütlichen Chanukka-Feier ein, die Familie spricht gemeinsam vollständig das hebräische „Baruch atah Adonai, Eloheinu Melech ha’olam …“ (Gepriesen bist Du, unser Gott, Herrscher des Universums, der Du uns heilig gemacht hast durch Deine Gebote und uns befohlen hast, die Chanukka-Lichter anzuzünden.)
Das Geschenkpapier trägt kleine Davidsterne, die Kinder lästern, dass das Haus der Fabelmans das einzige in der Straße ist, das dunkel bleibt und keine Weihnachtsbeleuchtung hat. Die russisch sprechenden Großeltern geben hier und da einen jiddischen Kraftausdruck von sich, der verschrobene Onkel Boris (Judd Hirsch, bekannt aus der Fernsehserie „Taxi“) möchte ein wenig jüdisches Brauchtum seinem Neffen Sammy mitgeben.
Boris ist es dann auch, der dem jungen Sammy die Leidenschaft für die Kunst im Allgemeinen und die Kunstform Film im Speziellen vermittelt.
Und so kreist „Die Fabelmans“ um die zwei wichtigsten Pole in Sammys beziehungweise Spielbergs Leben: Familie und Film. Und irgendwie hängen beide ja zusammen, jedenfalls im Werk Spielbergs. „Man schafft sich eine kleine heile Welt, in der man sich dann wohlfühlt“, definiert die Mutter ihren Begriff von Kunst. Was könnte auf die meisten der über 50 Filme in der Karriere Spielbergs besser zutreffen?
Filme sind ein mächtiges Werkzeug
Man wird in „Die Fabelmans“ Zeuge, wie Sammy lernt, wie das Medium Film seine Magie entfalten kann, aber auch, welches wirkmächtige Werkzeug ein Regisseur damit in der Hand hält. Man kann sogar Antisemiten damit bekämpfen, lernt Sammy.
Denn am College gibt es zwei sportliche Schüler, die Sammy offen wegen seines Jüdischseins anfeinden, sie hänseln und verprügeln ihn.
Doch Sammy findet seinen eigenen Weg, mit ihnen fertig zu werden. Im jährlichen Abschlussfilm über das Schulfest am kalifornischen Strand, der allen Schülern auf der Abschlussfeier präsentiert wird, porträtiert er den einen als unbeholfenen Trottel, den anderen als stahlharten, schönen Super-Sportler; fast in Leni Riefenstahl-Manier präsentiert Sammy ihn als nordischen Über-Menschen.
Sogar das etwas dümmliche Sport-Ass ist entsetzt. „Das bin ich nicht“, schluchzt er, der sonst vor allen den starken Mann gibt.
Kalifornien kommt schlecht weg
Kaum jemand versteht es so gut, sein Publikum über Stunden zu fesseln wie Steven Spielberg, sein meistens hohes Erzähltempo überfordert dabei nie, seine Charaktere haben selbst bei leichten Unterhaltungsfilmen immer eine gewisse Tiefe.
Die meisten seiner Filme sind für ein Massenpublikum gedacht, „Der weiße Hai“, „E.T. – Der Außerirdische“ oder „Jurassic Park“ sind Kassenschlager und Klassiker der Filmgeschichte. Dass er aber auch anders kann, zeigen ernstere Streifen wie „Der Soldat James Ryan“, „Schindlers Liste“ und „München“. Insgesamt erhielten die Filme dieses Großmeisters 140 Nominierungen und 35 Auszeichnungen des Oscars; er selbst war 13 Mal nominiert und gewann drei.
Dass Spielberg mehr kann als flache Action-Trips, zeigt auch „Die Fabelmans“. Für das Leben der braungebrannten Schönheiten am Strand Kaliforniens ist Sammy nicht gemacht. Dieser Bundesstaat kommt nicht gut weg. Es ist hier das Land der starken, großen blonden und blauäugigen und manchmal antisemitischen angeblichen Übermenschen – dabei ist es der Bundesstaat, in dem die Traumfabrik Hollywood liegt.
Wahrscheinlich ist auch dem Regisseur ebenso wie Sammy ein scheinheiliges amerikanisches Christentum suspekt, das Juden allenfalls als interessante Kuriositäten sieht, die es sonst nur in der Bibel gibt. Die blonde und irgendwie religiös-psychotische Monica jedenfalls sieht in Sammy eine Mischung aus Jesus-Ersatz und Sexobjekt. Doch um mit ihm unter der Decke zu verschwinden, muss er eben noch schnell „Jesus in sein Herz lassen“.
„Die Fabelmans“, Spielfilm, 151 Minuten, Regie: Steven Spielberg, ab 12 Jahre, Kinostart: 9. März 2023