Hans-Jochen Vogel war Bundesminister, Kanzlerkandidat, Bürgermeister zweier Millionenstädte, und einer der prägendsten Politiker der Sozialdemokraten. Am Sonntag ist er im Alter von 94 Jahren gestorben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte ihn mit den Worten: „Seine Disziplin und Geradlinigkeit, sein Pflichtbewusstsein und sein christliches Menschenbild haben ihm über alle Parteigrenzen hinweg größten Respekt eingebracht.“ Vogel habe immer für „Toleranz, Respekt und das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft gearbeitet und gekämpft“.
Der evangelische bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm schrieb auf Facebook: „Wir haben einen kostbaren Menschen verloren, der an vielen Stellen seines Lebens anderen Menschen zum Segen geworden ist, als Oberbürgermeister von München genauso wie als Bundesminister und in so vielen anderen verantwortlichen Positionen.“ Bedford-Strohm sei beeindruckt gewesen von Vogels Verwurzelung im christlichen Glauben. „Man kann sein Wirken für Deutschland nicht ohne sein bewusstes Christsein verstehen.“
Auch Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, würdigte Vogel als einen Menschen, für „dessen Handeln das christliche Menschenbild leitend gewesen“ sei. Vogels politisches Engagement sei von seinen Glaubensüberzegungen getragen gewesen. Er sei mit Recht das „soziale Gewissen der SPD“ genannt worden. „Es war nicht unbedingt selbstverständlich, wie Hans-Jochen Vogel als Sozialdemokrat sein Katholisch-Sein und seine damit verbundenen moralischen Grundsätze öffentlich bekannte und lebte.“
Der Arbeitskreis „Christen in der SPD“ bescheinigte Vogel ebenfalls, dass er „seine politische Haltung als Konsequenz seiner christlichen Überzeugung verstand“. Er habe seinen Eintritt in die Partei 1950 etwa mit der Auffassung begründet, dass der demokratische Sozialismus der katholischen Soziallehre in Vielem nahe stehe. Er sei auch ein Wegbereiter des Godesberger Programms gewesen, das 1959 „die jüdisch-christlichen Wurzeln der Sozialdemokratie anerkannte und ihr Verhältnis zu den Kirchen grundlegend positiv bestimmte“. Vogel habe als überzeugter Katholik viel für die Verständigung zwischen Kirche und SPD geleistet. „Wir erinnern uns an Hans-Jochen Vogel als überzeugten Menschen, als engagierten Christen und Sozialdemokraten, als fairen Streiter und kluge Persönlichkeit mit großer persönlicher Integrität.“
Aufarbeitung: Kein Schlussstrich
Vogel wurde am 3. Februar 1926 in Göttingen geboren. Der Sohn eines Professors für Tierzucht trat während seiner Zeit auf dem Gymnasium in Gießen in die Hitlerjugend ein. In seiner Zeit des Studiums der Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Er nahm unter anderem als Unteroffizier am Zweiten Weltkrieg teil, bei Kriegsende war er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Italien. Nach dem Krieg setzte er das Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Marburg fort.
Später war ihm die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ in der Bundesrepublik besonders wichtig. So unterstützte er etwa die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung in einem begleitenden Kuratorium. In seiner Festrede sagte er, dass es sich die deutsche Gesellschaft nicht leisten könne, unter den Zweiten Weltkrieg einen „Schlussstrich“ zu ziehen. In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor zehn Jahren sagte Vogel auf die Frage, wie er sich von der Nazi-Ideologie habe beeinflussen lassen können, er habe stets eine „gewisse Spannung“ gespürt, da er in seiner Jugend katholischer Messdiener gewesen sei und auch danach am katholischen Religionsunterricht im Pfarrhaus teilgenommen habe.
Im Jahr 1950 trat er in die SPD ein. Sein jüngerer Bruder Bernhard ist CDU-Mitglied und war viele Jahre lang Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen. Hans-Jochen Vogels erste Ehe wurde 1972 nach 22 Jahren geschieden. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seit 1972 war Vogel in zweiter Ehe verheiratet mit Liselotte. 2015 machte Hans-Jochen Vogel seine Parkinson-Erkrankung öffentlich.
Bundesminister, Parteivorsitzender, Bürgermeister
Vogel war von 1960 bis 1972 Oberbürgermeister von München, von 1972 bis 1974 in der Regierung von Bundeskanzler Willy Brandt Minister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Nach Brandts Rücktritt übernahm er 1974 in dem nun von Bundeskanzler Helmut Schmidt geführten Kabinett das Amt des Bundesministers der Justiz, das Amt führte er bis 1981. Danach wurde er 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin.
Bei der Bundestagswahl 1983 war er Kanzlerkandidat der SPD. Von 1987 bis 1991 war er Bundesvorsitzender der SPD und von 1983 bis 1991 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes war von 2001 bis 2005 Mitglied im Nationalen Ethikrat. 2001 erhielt er den Leo-Baeck-Preis, die höchste Auszeichung des Zentralrates der Juden in Deutschland.
Engagierter Christ
2005 saß Vogel im Kuratorium der überkonfessionellen Evangelisationsveranstaltung „ProChrist“. Als ihn 2007 die Wochenzeitung Die Zeit nach den Kriterien für ein gelungenes Leben befragte, sagte Vogel: „Man sollte beim Blick in den Spiegel sagen können: Insgesamt hast du es, gemessen an den ethisch-moralischen Regeln, oder einfacher, an den Zehn Geboten, im Ganzen erträglich bewältigen können. Das zweite Kriterium ist für mich: Was hast du für deine Mitmenschen tun können?“ Im selben Interview sagte er, er glaube an ein Leben nach dem Tod und an ein Gericht, bei dem man „vom Herrgott zu einem ernsten Gespräch über sein Leben“ gebeten wird. Er selbst würde Gott gerne fragen, warum er viel Leid zugelassen hat, so Vogel. Dabei tröste er sich mit dem Paulus-Wort: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft.“ Dann zitierte Vogel ein Gedicht Paul Gerhardts: „Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll; Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl“. Daher sei er auch gegen Sterbehilfe: „Das geht mir zu weit, da schlägt meine Überzeugung durch, dass das Leben in der Hand Gottes liegt.“
Als ihn 2015 der ZDF-Moderator Peter Hahne interviewte, sagte Vogel, der Glaube an Gott sei nicht nur etwas für alte Menschen. Jeder Mensch brauche einen archimedischen Punkt. Für ihn sei das der „unbewegte Beweger Gott“. Er rede auch über seinen persönlichen Glauben, wenn er gefragt werde, er fügte aber hinzu: „Man predigt nicht nur mit Worten, sondern mit seinem Leben.“ Vogel lebte seit 2006 im Münchner Seniorenstift Augustinum.
Von: Jonathan Steinert und Jörn Schumacher