Gegen Reizüberflutung empfiehlt der Soziologe und Zeit-Forscher Michael Jäckel, sich mehr Zeit für einzelne Dinge zu nehmen. Anstatt sich von der Aufmerksamkeitsindustrie wie Medien und Social Media vereinnahmen zu lassen, solle man doch „der Zeit ihre Dauer gewähren“, sagte der Professor für Soziologie an der Universität Trier dem Evangelischen Pressedienst (epd). Nicht nur in der Vorweihnachtszeit könne man innehalten und „auf die Schnelllebigkeit mit Langsamkeit antworten“.
Wenn man mehr auf das Verhältnis von Zeit und Aufmerksamkeit schaue, dann würden sich die Dinge vielleicht von selbst etwas entschleunigen, sagte Jäckel weiter. In der Wissenschaft steige etwa die Tendenz, nur noch die Kurzzusammenfassungen von Untersuchungen zu lesen. Anders werde man offenbar der Menge nicht mehr Herr.
Andere Studien hätten gezeigt, dass die durchschnittliche Zeit, die man in einer Ausstellung mit einem Kunstwerk oder einem Gemälde verbringt, durchschnittlich bei acht Sekunden liegt. Die Tate Gallery in London etwa werbe daher bereits für „langsames Sehen“ („Slow Looking“). Mit noch weniger, nämlich durchschnittlich drei Sekunden, dürfen angeblich Angebote in den sozialen Medien rechnen, so Jäckel.
An anderer Stelle werde „digitale Nüchternheit“, im Englischen „digital sobriety“, empfohlen, auch, um den digitalen Fußabdruck zu reduzieren. Hier gehe es darum, dass man in allen Dingen sparsamer ist, auch mit den Daten, die man einstellt oder abruft, so Jäckel. Die Medienwelt fordere einen ja zunehmend auf, nicht nur etwas zu lesen, zu hören oder zu sehen, sondern ständig auch zu sortieren, zu löschen, umzugruppieren, neu zu ordnen und so weiter: „Hier muss man sozusagen zum Verwalter in eigener Sache werden.“
Es sei nicht leicht, dem allgegenwärtigen „Hamsterrad“ zu entkommen, räumt Jäckel ein: „Kaum hat die Woche angefangen, da bekommen sie im Radio beispielsweise schon permanent Empfehlungen fürs kommende Wochenende.“ Quantitativ scheine die Ausdauer ja vorhanden zu sein, aber qualitativ eben weniger. Man müsse der Zeit Oasen verschaffen.
Vor Weihnachten wiederholten sich diese Appelle mit großer Regelmäßigkeit. Dies sei offenbar notwendig. Es könne die Vorfreude steigern, die vielleicht sogar manchmal wichtiger sei als das Ereignis selbst. Auch Weihnachten solle man daher als „Anker in der Zeit“ verstehen, wo man sich auf Menschen und ein Ereignis wirklich einlässt. Das geht dann nicht in acht oder drei Sekunden, so Jäckel: „Das darf man nicht verlernen.“
Michael Jäckel, Jahrgang 1959, hat im Beltz-Verlag sein überarbeitetes Standardwerk „Zeitzeichen. Einblicke in den Rhythmus der Gesellschaft“ neu vorgelegt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Konsumsoziologie, die Mediensoziologie und die Soziologie der Zeit. Von 2011 bis 2023 war er Präsident der Universität Trier.