Das Phänomen der Zwangsheirat, also die unfreiwillige Ehe junger muslimischer Frauen und Mädchen, gewinnt nach Angaben der Frauenrechtsorganisation „Terres des Femmes“ gerade in der Ferienzeit an Brisanz. Einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zufolge, biete der Heimaturlaub in der Türkei oder in arabischen Ländern den Anlass, dass muslimische Familien dort ihre Töchter an Männer verheiraten, die voher von den Eltern ausgesucht worden sind. Eine Studie aus dem Jahr 2013 belegt demnach, dass alleine in Berlin 460 derartige Fälle registriert wurden. Die Studie berücksichtigte Angaben von Beratungsstellen und Polizei.
Gegenüber der dpa erklärte „Terres des Femmes“-Geschäftsführerin Christa Stolle: „Die größte betroffene Altersgruppe sind die jungen Frauen zwischen 18 und 21 Jahren. Aber wir haben auch einen großen Anteil der 16- und 17-Jährigen, die hier noch zur Schule gehen. Die werden mitgenommen, verheiratet und dann im schlimmsten Fall dort als Ehefrauen zurückgelassen.“
„Zwangsehe ist völlig unakzeptabel“
Der Leiter der christlichen Missionsgemeinschaft „DMG interpersonal“ (DMG), Detlef Blöcher, erklärte auf Anfrag von pro: „Jede Form von Zwangsehe ist ein Verbrechen. Das ist durch nichts zu rechtfertigten.“ Man müsse jedoch bedenken, dass die orientalischen Gesellschaften auf der Familie als der Keimzelle der Gesellschaft aufbauten und sich damit wesentlich von den heutigen europäischen Kulturen unterschieden.
„Die europäische Denkweise ist geprägt von extremem Individualismus, der persönlichen Selbstbestimmung; im Orient denkt man von der Familie her“, sagte Blöcher. Die orientalische Familie biete Schutz und Identität, stelle ein soziales Netzwerk dar, fordere aber auch Loyalität. Das führe dazu, dass im orientalischen Kulturkreis Ehen auch arrangiert würden. Dies sei nicht notwendigerweise negativ. „Eine spontane Entscheidung für einen Menschen muss nicht unbedingt tragfähiger sein, als wenn eine Ehe langfristig eingefädelt wird und die Familie darauf achtet, dass die Ehepartner ähnliche Werte, Weltbilder und Lebensstile haben.“
Blöcher hält es jedoch „für völlig unakzeptabel“, wenn eine junge Frau gegen ihren Willen und in kürzester Zeit verheiratet wird – vor allem wenn sie noch jünger als 18 Jahre ist und in der engen Verwandtschaft.
„Muslime können an christlichen Werten anknüpfen“
Ein häufiger Grund für die Zwangsheiraten junger Frauen sei die Familienehre, die eng mit der Unversehrtheit, der Jungfräulichkeit der Frauen, verbunden wird, erklärt Blöcher. Für Orientalen seien die westlichen Moral- und Wertvorstellungen sehr befremdlich. Dazu trügen auch die westlichen Medien bei, in denen Sex außerhalb der Ehe für normal erklärt wird. Dies erzeuge bei vielen Orientalen Ängste und „baut nicht gerade Vertrauen in unsere Gesellschaft auf“, sagt Blöcher, der selbst mehrere Jahre im arabischen Raum gelebt hat. Die Familien beabsichtigten oft, ihre Töchter gemäß ihrer kulturellen Vorstellungen und Maßstäbe in „geordnete Verhältnisse zu bringen“. Die Verwandten in den Herkunftsländern würden dabei oft erheblichen Druck aufbauen.
„Unsere Kultur, unsere Werte- und Moralvorstellungen tragen dazu bei, dass sich hier Migranten von der Gesellschaft entfremden“, konstatiert Blöcher. Er sieht in den Vorstellungen von Christen über Ehe und Familie einen Anknüpfungspunkt, um mit Muslimen ins Gespräch zu kommen. „Hier gibt es viel, was uns miteinander verbindet“, sagt Blöcher. Er nimmt aber auch die Schulen und Moscheen in die Pflicht: „Das Thema Zwangsehe muss grundsätzlich in den Schulen thematisiert werden. Die Schulen habe eine entscheidende Rolle, um die jungen Mädchen dafür in einer respektvollen Art und Weise, mit der Verständnis der kulturellen Werte der Herkunftsländer, zu sensibilisieren.“ Aber auch die Migranten-Moscheen müssten sich dem Thema stellen und dabei helfen, „den Spagat zwischen deutscher und orientalischer Kultur“ zu schaffen.
Detlef Blöcher ist Physiker, hat früher in Saudi-Arabien bei der Ausbildung von Fachärzten mitgewirkt und ist mit den kulturellen Gepflogenheiten im Orient vertraut. Die DMG ist derzeit als christliches Missionswerk mit rund 350 Mitarbeitern in 80 Ländern weltweit aktiv. (pro)