Im Spielfilm „Tausend Zeilen“ hatte Erfolgsregisseur Michael „Bully“ Herbig im vergangenen Jahr seine humorvolle Interpretation der Abläufe um den Spiegel-Reporter und Hochstapler Claas Relotius gezeigt. Nun präsentiert Sky Deutschland die Dokumentation zum Skandal. Hier geht es naturgemäß etwas ernster zu – doch nicht weniger rauft man sich aus Verwunderung oder Verzweiflung die Haare. Der Doku wünscht man jedenfalls mindestens eine ebenso große Zuschauerzahl wie der Komödie.
„Claas Relotius hat im deutschsprachigen Raum so gut wie jeden Journalistenpreis gewonnen, den er gewinnen konnte“, stellt Daniel Puntas – als Chefredakteur des Reportagen Magazins einer der Geschädigten des Betrugs – im Film fest. „Da hatte niemand das Gefühl, da könnte etwas nicht stimmen.“ Der journalistische Hochstapler Relotius, der jahrelang Europas größtes Nachrichtenmagazin und die gesamte Öffentlichkeit täuschte, hebelte ausgerechnet die so hochgelobte Fakten-Check-Abteilung des Magazins und das Rudolf Augstein-Zitat „Sagen, was ist“ aus den Angeln.
Der Regisseur Daniel Sager, der mit „Hinter den Schlagzeilen“ 2021 bereits eine Doku über Journalismus und 2011 einen Kurzfilm über einen katholischen Priester drehte, hat mit „Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre“ die wichtigsten Eckpunkte des größten Medienskandals in Deutschland aufgearbeitet. Die Produktion von Kinescope Film im Auftrag von Sky Studios lässt dabei den geschädigten Journalisten Juan Moreno ebenso zu Wort kommen wie viele andere Journalismus-Experten. Der Film feiert am 18. März Weltpremiere auf dem Kopenhagener Dokumentarfilmfestival CPH:DOX und ist ab dem 24. März auf Sky und auf dem Streamingdienst WOW abrufbar.
„Schreiben Sie das einfach so hin?“
Viele Ausschnitte mit Original-Zitaten aus jener Zeit werden beim Zuschauer wahlweise ein Gruseln oder ein Lachen auslösen. Etwa wenn Franz Fischlin aus der Jury des CNN Journalist Award bei der Vergabe des Preises an Relotius damals zum Preisempfänger sagte: „Ihr Text ist eigentlich Literatur!“ Und ja, das war er, so wie rund 60 andere Artikel, die sich der Mittdreißiger für den Spiegel frei ausgedacht hatte. Niemand schien damals zu merken, dass dieser Satz, bei rechtem Licht betrachtet, für einen Journalisten eigentlich eine Beleidigung sein sollte.
Als sei es der Ironie noch nicht genug, antwortete Relotius damals auf die Frage „Schreiben Sie das einfach so hin?“: „Ich habe lange daran gesessen. Vor allem an der Dramaturgie.“ Wie heute jeder weiß: Tatsächlich war es sogar ausschließlich die Dramaturgie, an der der vermeintliche Journalist damals gearbeitet hat.
Steffen Klusmann, der seit 2019 Spiegel-Chefredakteur ist, fasst die Machart der Relotius-Texte so zusammen: „Solche Geschichten gibt es nur im Märchen oder in Hollywood.“ Und er stellt für die Sky-Dokumentation fest: „Wenn das über einen solch langen Zeitraum so systematisch passiert, ist das ein Systemversagen. (…) Wie glaubwürdig ist man dann bei anderen Dingen?“
Der „schlimmste Skandal, den es seit 1945 gegeben hat“, habe auch alle andere Zeitungen in Mitleidenschaft gezogen, sagt Wolfgang Krach, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung. Auch der Journalist Stefan Niggemeier kommt im Film zu Wort, er war selbst von 2011 bis 2013 beim Spiegel. Die Fakten-Check-Abteilung namens „Dokumentation“ habe zu seiner Zeit exakt so gearbeitet, wie man es von ihr erwartete: „Sie prüfen tatsächlich jedes Wort“, so Niggemeier. Aber offenbar sei der Druck im Hause, „tolle Geschichten zu erzählen“ irgendwie größer gewesen als der Druck, dass diese alle wahr sind.
„Relotius ist psychisch krank“
Juan Moreno selbst spricht einen neuralgischen Punkt an, der Medienproduzenten ebenso angeht wie Medienkonsumenten: „Diese Texte von Relotius haben einem das Gefühl gegeben, dass die Welt nicht sehr kompliziert ist. Der Syrien-Krieg wurde von einem kleinen Jungen ausgelöst; man gibt Guantanamo-Häftlingen keinen Koran, weil sie Muslime sind; es stimmt nicht, aber es passt in ein Mainstream-Gefühl. Und diese Texte haben einen darin bestätigt, was man dachte.“
Daniel Puntas erzählt vor der Kamera, ein halbes Jahr nach dem Skandal sei Relotius zu ihm gekommen und habe sich bei ihm entschuldigt. Nach einem stundenlangen Gespräch sei Puntas klar geworden: Relotius ist psychisch krank. Wie die Bild-Zeitung berichtete, soll der fantasiebegabte Betrüger inzwischen bei der Werbeagentur Jung von Matt in Hamburg als Texter arbeiten. Vielleicht fügt sich ja am Ende alles so, wie es sein soll.
Dass die Aufarbeitung des Skandals durch die Spiegel-Leitung alles andere als vorbildlich verlief, macht „Erfundene Wahrheit“ ebenfalls deutlich. Bis zuletzt war man dort offenbar weiterhin von der eigenen Kompetenz so betrunken, dass man dieselben Leute zur Aufarbeitung des Skandals einsetzte, die für sein Zustandekommen verantwortlich waren.
Die Filmemacher hatten Relotius selbst für ein Interview angefragt, doch der lehnte ab – ebenso wie übrigens insgesamt neunzehn Personen aus der Spiegel-Leitung oder der Redaktion, darunter der damalige Chefredakteur Klaus Brinkbäumer. Offenbar möchte man dort möglichst schnell Gras über die Affäre wachsen lassen.
Regisseur Sager sagte der Presse vor dem Start der Doku: „Für einen gesellschaftlichen Diskurs und um freie Entscheidungen treffen zu können, brauchen wir unverfälschte Informationen. Das ist die Aufgabe des unabhängigen Journalismus. Wenn dessen Glaubwürdigkeit beschädigt wird, ist nichts weniger als die Demokratie in Gefahr. Der Relotius-Skandal hat uns vor Augen geführt, wie schnell das passieren kann.“ Oder um es mit Moreno zu sagen: „Wenn wir nicht mehr glauben, was in der Zeitung oder im Magazin steht und im Hörfunk und Fernsehen gesagt wird, wenn wir per se glauben: Das stimmt nicht!, dann ist Game Over.“
„Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre“, Dokumentarfilm, 90 Minuten, ab 12 Jahren, ab 24. März auf Sky und auf dem Streamingdienst WOW abrufbar.