Sisay wird 1976 in der Nähe von Addis Abeba, Äthiopien, geboren. Er kommt blind auf die Welt. „Meine Eltern waren anfangs ziemlich überfordert, beide hatten niemanden in ihrer Verwandtschaft, der blind war oder eine andere Behinderung hatte.“ Wie gehen sie damit um, erfährt er Ablehnung, frage ich. „Nein“, sagt er liebevoll, „im Gegenteil, meine Eltern und meine beiden Geschwister haben sich rührend um mich gekümmert.“ Sie wollten immer das Beste für ihren Sohn.
Und das hieß im Grundschulalter, dass Sisay eine Förderschule für Blinde mit angeschlossenem Internat besuchen sollte. „Die Versorgung mit solchen Schulen ist ganz gut in Äthiopien. Schon in den 1920er Jahren haben Missionare aus Schweden und Mennoniten Schulen für Blinde aufgebaut.“ Doch es gibt ein Problem: Die Schulen bekommen keine staatliche Förderung, sie sind teuer.
Sisays Vater entschließt sich zu einer drastischen Maßnahme. Er arbeitet als Fahrer beim Militär, was gerade so für den Unterhalt der Familie reicht. Da ein Bürgerkrieg im Land tobt und es an Kämpfern mangelt, beantragt er, sich an die Front versetzen zu lassen. Unzählige Soldaten sterben dort bei den Gefechten. Und genau das ist auch sein Plan: Er weiß, dass Waisen von Gefallenen vom Staat versorgt werden, so würde sein Sohn den Internatsplatz bekommen.
„Mein Vater hätte mein Leben für mich gegeben“
Sein Vorgesetzter hakt nach. Niemand will freiwillig an die Front, warum Sisays Vater das denn wünsche. Da erzählt er von seinen Beweggründen. Der Offizier ist so überwältigt, dass er alle Hebel in Bewegung setzt, um zu helfen. Schließlich gelingt es ihm, Sponsoren zu finden. Sisay kann die Schule besuchen. Und sein Vater bleibt auf dem alten Posten.
„Du siehst“, erklärt mir Sisay, „ich habe viel Liebe erfahren, mein Vater hätte sein Leben für mich gegeben.“ Trotzdem fällt es ihm während seiner Kindheit nicht leicht, seine Behinderung zu akzeptieren, manchmal verzweifelt er fast daran. Dann, als er 16 Jahre alt ist, wird Sisay in eine christliche Jugendgruppe eingeladen.
Kurz darauf besucht ein Heilungsevangelist die Gemeinde. „Hat Jesus nicht mehrmals einen Blinden geheilt? Warum sollte er das nicht bei mir tun“, sagt sich Sisay und stellt sich in die Schlange der Menschen, die um Gebet bitten. „Und während ich dort wartete, hatte ich eine Gottesbegegnung.“ Sisay unterbricht sich kurz, sucht nach den richtigen Worten: „Ich habe gespürt, dass Gott zu mir sagt: Ich habe dich so geschaffen, wie du bist. Deine Blindheit ist keine Krankheit. Sie ist deine Identität, deine Begabung und deine Berufung.“
Als er vor dem Evangelisten steht, bittet Sisay den erstaunten Mann, ihn für seinen Lebensweg als Blinder zu segnen. Sisay macht seinen Abschluss und studiert Geschichte. Zwölf Jahre unterrichtet er als Lehrer an einer weiterführenden Schule. Parallel macht er einen Master in Theologie („christian leadership“). Immer wieder wird er zu Rate gezogen, wenn es in Schulen Fragen zum Thema Behinderung gibt. Er spricht bei Konferenzen mit verschiedenen staatlichen und nicht staatlichen Organisationen über Möglichkeiten der Inklusion und macht sich einen Namen als Experte in diesem Bereich.
Aufblühen mit Behinderungen
Als die Regierung mit internationaler Unterstützung ein Förderprogramm aufsetzt, in dem es um Partizipation von Menschen mit Behinderungen geht, wird er angefragt, ob er dieses leiten möchte. Sisay sagt zu. „Flourishing with disabilities“ heißt das Programm, „Aufblühen mit Behinderungen“. In den nächsten Jahren besucht er Schulen, Kirchgemeinden, Behörden und berät sie Fragen wie Behinderten-WCs, Türgrößen, nichtvisuellen Lehrmitteln, digitalen Zugängen für Menschen mit Behinderungen und vielem mehr.
Tearfund Äthiopien ist eine der durchführenden Organisationen, bei einem Projektbesuch in Addis Abeba lernen wir uns kennen, und er erzählt mir seine bewegende Geschichte. „Gott hat in diesen Jahren immer wieder bestätigt, dass meine Blindheit meine Begabung ist, durch die ich anderen Menschen helfen kann.“
Auch persönlich findet er sein Glück. Als er seine Liebe einer jungen Frau gesteht, hat er Angst, sie könnte davon abgeschreckt sein, dass er blind ist. Doch sie lacht ihn an: „Ich habe immer einen Mann gesucht, der Gott liebt, der mich liebt – und der sein Leben als Berufung für andere sieht. Wo könnte ich einen besseren finden.“ Vor drei Jahren wurden sie Eltern eines – kerngesunden – Jungen.
Sorge um die Kürzungen von Fördergeldern
Also alles perfekt bei Sisay? Nein, dafür sind ihm die Bedingungen, unter denen viele andere Menschen mit Behinderung leben, noch längst viel zu schlecht. „Wenn nur zehn Prozent der Kirchen niedrigschwellig werden, wäre schon viel erreicht“. Aktuell machen ihm die vielen Kürzungen in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit große Sorge. „People with disabilities are the most vulnerable of all – Menschen mit Behinderungen gehören zu den verletzlichsten überhaupt.“
Aber Inklusion kostet Geld. Viele Programme stehen auf der Kippe. Er fordert mich auf, in Deutschland meine Stimme zu erheben, ich verspreche es ihm. Wie geht Sisay als Familienvater persönlich mit der Unsicherheit um? „Ich denke von Quartal zu Quartal, manchmal von Monat zu Monat“, sagt er. Und dann strahlen seine Augen plötzlich so stark, dass man es auch hinter den dunklen Brillengläsern wahrnimmt. „Sollte diese Arbeit zu Ende gehen, wechsle ich als Lehrer in eine Förderschule, dort kann ich den jungen Menschen das Wichtigste mitgeben, was sie für ihr Leben brauchen: Dass Gott sie genau so designt hat, wie sie sind.“
Von: Uwe Heimowski