Eigentlich hätte Jenny von Leoben auch gut bei den Berliner Philharmonikern oder in der Metropolitan Opera in New York landen können. Doch der Lebensweg der talentierten Pianistin nahm an einer Stelle eine fatale Abzweigung. Die impulsive Frau landete unverschuldet im Gefängnis.
In dem Film „Vier Minuten“ erzählte Chris Kraus 2006 die Geschichte von Jenny, die im Knast in ein komplexes Verhältnis zu einer Klavierlehrerin geriet. Schon damals war die Besetzung von talentierten Stars geprägt, unter anderem mit Monica Bleibtreu und Jasmin Tabatabai. Hannah Herzsprung wurde für ihre Rolle als Strafgefangene Jenny mit mehreren internationalen Preisen geehrt, „Vier Minuten“ war damals der erfolgreichste deutsche Kinofilm des Jahres und gewann über 60 internationale Filmpreise.
Chris Kraus, der damals das Drehbuch schrieb und Regie führte, legt nun mit dem Film „15 Jahre“ eine Fortsetzung vor. Und die ist mindestens genauso intensiv wie sein Vorgänger und noch ausgefeilter; er schafft eine spannende Atmosphäre, die von feinsinnigem Humor und tiefgründigen Dialogen gleichermaßen geprägt ist.
Der Filmemacher, der bereits für Fernsehproduktionen wie „Motzki“, „Marga Engel“ und „Bella Block“ die Regie übernahm und zwei Romane schrieb, konnte erneut Hanna Herzsprung für die Hauptrolle gewinnen. Und sie ist der Motor, der diese sehenswerten 144 Minuten am Laufen hält.
Jenny ist mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen worden, doch ihre Hoffnungen sind zersplittert, sie blickt auf ihr Leben wie auf einen Scherbenhaufen, der jetzt eigentlich nur noch entsorgt werden muss. Da begegnet sie ihrer alten Jugendliebe wieder, damals Punker, heute ein Popstar und Show-Moderator (wie immer meisterlich: Albrecht Schuch, „Berlin Alexanderplatz“, „Im Westen nichts Neues“). Das einstige Klavier-Wunderkind muss nun nicht nur gegen ihre Aggressionen, Alkoholsucht und Hoffnungslosigkeit ankämpfen, sondern auch entscheiden, wie sie mit dem nun als „Gimmiemore“ berühmt gewordenen Star umgeht – denn der ist schuld daran, dass Jenny im Gefängnis saß.
„Vergebung bedeutet, jede Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben“
Jenny kommt in einer christlichen Resozialisierungseinrichtung unter. „Jesus liebt dich“ steht in großen Lettern über dem Eingang dieser Kirche, und diese Botschaft rückt nicht nur optisch immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Ebenso werden die christlichen Botschaften auf den bunt bemalten Bussen der Einrichtung immer wieder von der Kamera eingefangen und auch inhaltlich thematisiert. „Team Jesus“ steht groß auf dem Heck. Und die Teilnehmer der Resozialisierungsmaßnahme nehmen den Glauben ernst, keinen von ihnen zieht der Regisseur ins Lächerliche, er gönnt sich höchstens mal einen ironischen Seitenhieb.
So werfen sich die Gruppenmitglieder allerhand Bibelverse an die Köpfe, und zwar in allen Lebenslagen, was nicht einer gewissen Komik entbehrt. „Am liebsten würde ich jetzt Psalm 34 Vers 15 zu Dir sagen, echt jetzt!“, sagt Wolke zu Jenny. (Dabei enthält dieser Psalm übrigens alles andere als eine Beleidigung. „Lass ab vom Bösen und tue Gutes“, heißt es da, „suche Frieden und jage ihm nach!“ Ein Rat, den sich Jenny zu Herzen nehmen könnte.)
Sie bete nachts, sagt Jenny, und im Laufe des Films hadert sie mit dem Zwiespalt in sich: das überwältigende Bedürfnis nach Rache einerseits, und das Wissen darum, dass Gott eigentlich Vergebung möchte, andererseits. Der Beginn des Films stimmt den Zuschauer mit einem weisen Zitat des amerikanischen Psychologen Jack Kornfield ein: „Vergebung bedeutet, jede Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben“, steht da auf der Leinwand. Und Jenny selbst soll in einem Tagebuch alle Begegnungen festhalten, „die ihre Vergebungskompetenz stärken“, rät ihre Therapeutin (wunderbar gespielt von Adele Neuhauser, bekannt als „Tatort“-Kommissarin Bibi Fellner).
Sehr erfolgreich ist Jenny damit nicht. Ihre eigene Vergangenheit kann sie nicht hinter sich lassen. Ihr größtes Talent, das Klavierspielen, will sie nicht mehr einsetzen als „Segen für andere“. Dabei ruft ihr Taufspruch doch genau dazu auf (1. Mose 12,2).
„15 Jahre“ ist eine komplexe Story, wunderbar erzählt. Nicht nur, dass Chris Kraus hier mit allen seinen Darstellern ins Schwarze getroffen hat – etwa mit Christian Friedel („Das weiße Band“) in einer tragenden Nebenrolle, Désirée Nosbusch („Bad Banks“) oder Samuel Koch, und natürlich mit einer Hannah Herzsprung, die größtenteils auch bloß mit ihren Augen spielen könnte. Hier versteht jemand sein Handwerk, hier stimmt das Timing in den Dialogen, den Gags und in den noch so dramatischen Szenen.
Das „deutsche“ Problem, dass man auf der Leinwand häufig nichts anderes sieht als Schauspieler, die verzweifelt ihre Arbeit tun, anstatt Menschen, ist hier wie weggeblasen. Gags, die gar nicht als solche auffallen, und trotzdem zünden, ist man beim üblichen tumben Pipi-Kaka-Slapstick à la Til Schweiger nicht mehr gewohnt.
Da sind grandiose Einfälle, die sich ins Gedächtnis einprägen, wie etwa die Hände der als Putzfrau arbeitenden Jenny, die in Gummihandschuhen auf einem Flügel wie nichts eine Sonate zaubern; da ist das wie zufällig im Hintergrund platzierte Plakat in der Musikhochschule, vor dem Jenny einen Tobsuchtsanfall hat, und auf dem steht: „So klingt deine Zukunft“. Und da ist die Musik, welche die schwierige Gratwanderung zwischen Kitsch und Herzenswärme mit Bravour meistert. Die Musik aus der Feder der vielfach preisgekrönten Komponistin Annette Focks und des Singer/Songwriters Max Prosa wirkt nie künstlich, sondern schmiegt sich immer organisch an das Geschehen an und wird ein wichtiger Teil von ihm.
Ein christliches Lied zieht sich durch den Film
Die Botschaft von der Vergebung, die Jenny in der christlichen Gemeinschaft eigentlich mitbekommen hat, kann in ihr nur schwer Frucht bringen. Eine Weihnachtspredigt der Therapeutin hat Jenny eigentlich noch gut im Gedächtnis: „Jesus hat nicht dem einen mehr und dem anderen weniger vergeben. Er hat sich ans Kreuz schlagen lassen. Und er konnte sogar seinen Peinigern vergeben. Also gibt es vermutlich auch nichts, was der Mensch nicht vergeben kann.“ Aber kann sie sich selbst vergeben?
Bei alledem zieht sich das schlichte christliche Lied „Ins Wasser fällt ein Stein“ wie ein roter Faden durch die Handlung. Passend heißt es darin: „Ein Funke, kaum zu seh’n, entfacht doch helle Flammen; und die im Dunkeln steh’n, die ruft der Schein zusammen. Wo Gottes große Liebe in einem Menschen brennt, da wird die Welt vom Licht erhellt; da bleibt nichts, was uns trennt.“ „15 Jahre“ ist ein sehenswertes Drama voller emotionaler Höhen und Tiefen, grandioser filmischer Einfälle, mit einer Top-Besetzung, wunderschöner Musik und mit einer wertvollen Botschaft.
„15 Jahre“, 144 Minuten, Regie: Chris Kraus, Kinostart: 11. Januar 2024, FSK: 12 Jahre