Dieser Tage ist ein Buch von mir erschienen: „Mit dem Leben spielt man nicht“ ist ein biografischer Rückblick. Am Wochenende habe ich es gleich nochmal gelesen. Und was du als Autor schmerzlich bemerkst: Es hätte so viel mehr zu erzählen gegeben. Viele beeindruckende Menschen, die meinen Weg gesäumt haben, fanden nicht den Weg ins Buch, obwohl sie es verdient hätten. Über eine Frau möchte ich deshalb heute schreiben. Aus der Perspektive von damals, 1992, während meines Zivildienstes.
Bald wird sie neunzig. Man sieht es ihr nicht an. Oder besser: Äußerlich sieht man es schon. Ihr Haar ist schlohweiß, das Gesicht faltig, ihre Haltung gebückt. Seit sie sich bei einem Sturz im letzten Jahr den Oberschenkelhalsknochen brach, fällt ihr das Gehen schwer. Mit einer Gehhilfe kommt sie zwar vorwärts, aber an den langen Treppenauf und -abgängen der Hamburger U-Bahnen ist sie auf Hilfe angewiesen.
„Vierzehn verschiedene Leute müssen mir helfen“, erzählt sie, „bis ich endlich von Kiwitssmoor nach St. Pauli und abends wieder nach Hause gekommen bin. Sieben hin, sieben zurück.“ St. Pauli – ihr St. Pauli. „Und stellt euch vor: Jedesmal habe ich diese Hilfe gefunden.“ Äußerlich also ist sie deutlich als ein Mensch am Lebensabend erkennbar.
Hilfe im Vergnügungsviertel
Doch wer ihre ungebrochene Vitalität erlebt, ihre Lebensfreude, ihren Humor und – vor allem! – ihre Menschenliebe, dem kommt sie um vieles jünger vor. Und dem rutscht dann schon mal ein liebevolles „Klärchen“ raus. Worauf die so Angesprochene schüchtern wie ein Teenie zu Boden schaut und abwinkt, in den Augenwinkeln ein verschmitztes Lächeln.
„Schwester Klara“, wie jedermann sie liebevoll nennt, ist ehrenamtliche Mitarbeiterin der Heilsarmee in Hamburg St. Pauli. Hier, mitten auf dem Kiez, im Herzen der berühmt-berüchtigten „sündigsten Meile der Welt“, der Reeperbahn, kümmert sie sich um Menschen, die in der glitzernden Welt des Vergnügungsviertels unter die Räder kommen. Und das sind nicht wenige. Die Liebe, die ihnen die leuchtend-orangen Neonherzen versprechen, finden sie nicht. Allenfalls ein zweifelhaftes Vergnügen und nicht selten ein verkatertes Erwachen. Viele leben in einem traurigen, alkoholisierten Dämmerzustand auf der Straße.
Was tun diese Menschen, die hier ans Ufer gespült werden? Manche gehen zur Heilsarmee. An jedem Donnerstagabend findet eine Coffeebar statt. Das ist eine evangelistische Veranstaltung mit buntem Programm und mit viel Zeit zum Kaffeetrinken und „klönen“, wie man in Hamburg sagt. Sonntagnachmittags gibt es ein geselliges Beisammensein mit Spielen, Gesang, einer Andacht – und natürlich auch mit Kaffee. Womit wir das verbindende Element zwischen beiden Veranstaltungen benannt hätten: den Kaffee. Und den kocht Schwester Klara.
Das Gefühl haben, dazu zu gehören
Zweimal pro Woche dampft ein großer Pott in der kleinen Küche. Schwester Klara füllt die Zwei-Liter-Edelstahlkanne. Jedem Gast schenkt sie persönlich ein. Kurze, freundliche Worte begleiten jede Tasse. Ein kleiner, unscheinbarer Dienst. Doch wie wichtig ist er.
Da sitzt an einem Tisch ein sechzigjähriger Mann. Er ist obdachlos. Schwester Klara kennt ihn seit Jahren, doch sie hat ihn lange nicht gesehen. Er hat eine Zeitlang im Gefängnis gesessen, erst vor ein paar Tagen wurde er entlassen. Klara stellt keine Fragen. Sie schenkt ihm Kaffee ein und begrüßt ihn, als sei er nie fort gewesen. Natürlich weiß sie, wo er war. Und natürlich weiß er, dass sie es weiß. Doch beide wissen, dass es hier nicht nötig ist, darüber zu sprechen. Wer sonst gibt ihm das Gefühl, an einen Platz zurückzukommen, wo er wichtig ist, wo er dazugehört?
Dort sitzt eine Sechzehnjährige zusammengekauert in einer Ecke. Sie ist von Zuhause weggelaufen. Sie ist schwanger und hat Angst, es ihren Eltern zu beichten. Schwester Klara schenkt ihr einen Kaffee ein. Dann stellt sie die Kanne zur Seite und legt ihr den Arm auf die Schulter. „Was ist denn los, Mädchen?“ Tränen fließen. Das Mädchen weint sich aus. Sie fasst Vertrauen und erzählt. Und tatsächlich kann ihr später eine Sozialarbeiterin den Weg nach Hause ebnen. Klara ist derweil mit ihrer Kaffeekanne am nächsten Tisch.
Menschen die Liebe Gottes weitergeben – das wollte Schwester Klara schon immer. Die waschechte Schwäbin kam in Stuttgart zur Welt. Sie wuchs in einem christlichen Elternhaus auf und kam früh zum Glauben. Sie erlernte den Beruf der Krankenschwester und arbeitete in der Verwaltung eines christlichen Krankenhauses.
Den Ersten Weltkrieg erlebte sie als Kind, den zweiten bereits aktiv im Krankenhaus. Sie zog nach Hamburg, wo sie viele Jahre im methodistischen Diakoniewerk Bethesda tätig war. Unscheinbar stetig tat sie ihren Dienst, bis sie plötzlich – wo waren die Jahre geblieben? – pensioniert wurde. Doch Klara fühlte sich weder als zum alten Eisen gehörig, noch wollte sie untätig sein. Nach einem Gottesdienst im Michel, der Michaeliskirche, dem Wahrzeichen Hamburgs, sprach sie mit Helmut Thielicke, der gepredigt hatte. Der Professor empfahl ihr die Heilsarmee. Dort würden stets ehrenamtliche Mitarbeiter gesucht. Sie ging hin. Und blieb.
Ein Brief vom Bundespräsidenten
Schwester gehört zu den Stillen im Lande. Nie hat sie sich in den Vordergrund gestellt, nie ihre Bedürfnisse angemeldet. Sie kann sich herzlich freuen, wenn man ihre Leistung anerkennt. Aber sie hat diese Anerkennung nie gesucht. Dafür ist sie zu bescheiden.
Wie viel größer war die Freude, als im Oktober 1999 plötzlich dieser Brief in ihrem Briefkasten lag:
„Sehr geehrte Frau Kille,
die Senatskanzlei darf Ihnen heute mitteilen, daß der Herr Bundespräsident Ihnen aus Anlaß des Tages der Deutschen Einheit das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen hat.“
Klara konnte es kaum fassen. In einem Festakt überreichte Hamburgs Bürgermeisterin Christa Sager ihr den Orden im Rathaus. Obendrein wurde Schwester Klara vom Privatsender Hamburg 1 gleich noch zur Hamburgerin ’99 gewählt und in einer Weihnachtsgala geehrt. Selten hat ein Bundesverdienstkreuz einen so würdigen Adressaten gefunden.
Aber wenn man dem „Klärchen“ das sagt, dann wird sie wieder ganz rot und schaut verlegen zu Boden – wieder ganz das junge Mädchen.
Von: Uwe Heimowski