Schweizer Religionslandschaft im Wandel

Eine Studie zeigt, dass die Säkularisierung in der Schweiz voranschreitet und sich religiöse Gruppen zunehmend für Frauen sowie Homosexuelle öffnen und inklusiver werden.
Von Norbert Schäfer
Der Anteil religionsloser Schweizer an der Bevölkerung hat sich seit 1970 mehr als verzwanzigfacht

Religionssoziologen und Theologen der Universitäten Lausanne, Basel und Strassburg haben in einer Studie die Entwicklung lokaler religiöser Gruppen (Pfarreien, Gemeinden, Synagogen, Tempel, Moscheen oder Kulturzentren) in der Schweiz zwischen 2008 und 2022 unter die Lupe genommen. Die Studie zeigt, dass die Säkularisierung zunimmt: Es gibt weniger religiöse Gruppen, und sowohl die Leiter als auch die Teilnehmer sind im Durchschnitt älter geworden.

Die Gesamtzahl der lokalen religiösen Gruppen im Beobachtungszeitraum ist von 6.341 (2008) auf 5.883 (2022) gesunken. Das entspricht einem Rückgang von 7,2 Prozent. Die Zahl der regelmäßigen Teilnehmer religiöser Veranstaltungen ist von rund 894.000 (2008) auf 824.000 (2022) gesunken. Das entspricht einem Rückgang des Anteils der regelmäßigen Teilnehmer an der Gesamtbevölkerung von 11,6 Prozent (2008) auf 9,5 Prozent (2022).

Die Studie zeigt auch, dass das Alter der „spirituellen Leitungspersonen“ in den Religionsgemeinschaften steigt. Zwischen 2008 und 2022 stieg das Durchschnittsalter der spirituellen Leitungspersonen um drei Jahre, von 50,8 auf 53,8 Jahre. Die Bevölkerung der spirituellen Leitungspersonen sei älter und altere im Durchschnitt schneller als die übrige Erwerbsbevölkerung der Schweiz. „Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass nicht genügend jüngere spirituelle Leitungspersonen rekrutiert werden“, heißt es in der Studie. Dieser Alterungstrend sei allgemein zu beobachten, Ausnahmen seien einzig „konservative Evangelikale“ und „andere Christen“.

Mehr Offenheit gegenüber Frauen und Homosexuellen

Lokale religiöse Gruppen in der Schweiz sind laut der Studie offener geworden. Der Prozentsatz lokaler religiöser Gruppen, die homosexuelle Menschen als voll akzeptierte Mitglieder in der Gemeinschaft akzeptieren, ist von 63 Prozent (2008) auf 75 Prozent (2022) gestiegen. Der Prozentsatz der Gruppen, die homosexuelle Menschen als ehrenamtliche Leitungspersonen erlauben, hat sich von 36 Prozent (2008) auf 55 Prozent (2022) erhöht. Besonders deutlich zeige sich die wachsende Akzeptanz homosexueller Menschen „in den katholischen, evangelisch-konservativen und muslimischen Traditionen“.

Zwischen 2008 und 2022 wurden laut der Studie religiöse Gruppen auch offener für Frauen in Führungsrollen. 54 Prozent erlauben Frauen grundsätzlich spirituelle Leitung (2008: 47 Prozent), und 15,2 Prozent werden tatsächlich von Frauen geleitet (2008: 12,4 Prozent). „Fortschritte“ gebe es vor allem bei Reformierten, klassischen Evangelikalen und Buddhisten, während konservative Evangelikale, Orthodoxe, Muslime und Hindus/Sikhs sich kaum oder negativ veränderten.

Die Studie lässt erkennen, dass die „großen anerkannten religiösen Traditionen“, wie die reformierten und katholischen Kirchen, im Beobachtungszeitraum fast nur Gruppen verlieren. Ähnlich gehe es den evangelisch-konservativen Traditionen. Eine andere Situation zeige sich für die „evangelikale charismatische (oder: pfingstliche) Tradition“. In der Schweiz seien seit 2008 241 neue evangelikale charismatische Gruppen gegründet worden – allerdings auch 236 Gruppen dieser religiösen Prägung wieder verschwunden. Ebenso wie die Gesamtzahl hat sich auch die Zahl der regelmäßigen Teilnehmer kaum verändert. „Die evangelikal-charismatischen Gemeinden in der Schweiz wachsen also nicht, sondern weisen eine hohe Fluktuation auf“, heißt es in der Studie.

Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Schweizer Gesellschaft nicht nur säkularer, sondern auch inklusiver werde, wenngleich Unterschiede zwischen den Traditionen bestünden. Zudem widersprächen die Ergebnisse Theorien, die Säkularisierung lediglich für „ein Phänomen anerkannter großer Kirchen“ hielten.

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