Zwei Jahre Corona-Pandemie mit Kontakteinschränkungen, Schulschließungen samt Fernunterricht und strengen Hygienemaßnahmen haben Spuren hinterlassen bei Kindern und Jugendlichen. Eine Zunahme von Ängsten und Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsabfall und Versagensängste, ein weiterer Anstieg des Medienkonsums und Gewichtszunahmen bei den Kindern und Jugendlichen: Das nannten etwa die Erziehungswissenschaftlerinnen Christine Bär, Universität Gießen, und Angela Schmidt-Bernhard, Universität Marburg, bei einer Fachtagung der Hochschule Offenburg als soziale Auswirkungen von digitalem Distanzunterricht.
Auf der Tagung in Kooperation mit der Gesellschaft für Bildung und Wissen und dem Bündnis für humane Bildung zogen Wissenschaftler verschiedener Hochschulen und Universitäten in Deutschland „Lehren aus der Pandemie“ und setzten sich mit dem Thema „Bildung und Digitalisierung“ auseinander.
Die Digitalindustrie, machten Bär und Schmidt-Bernhard deutlich, konnte aus der Notlage der Pandemie große Gewinne erzielen, das Versprechen insbesondere aus Wirtschaftskreisen, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler durch scheinbare Objektivität der Technik profitieren würden, habe sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Sozial schwächer gestellte Kinder und Jugendliche seien in den Zeiten von Schulschließung und Fernunterricht weiter abgehängt worden.
Gräben zwischen Gruppen haben sich vertieft
Für Bär ist der Distanzunterricht eine „Beschulung in den schwarzen Raum“. Gerade die sozial Schwächeren seien schnell weg und jede Ablenkung immer nur „einen Klick weit entfernt“. Kinder und Jugendliche, die von Erwachsenen Hilfe bekamen bei der Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit zu Hause, seien relativ gut durch die Zeiten von Fernunterricht gekommen. Obwohl auch diese Kinder unter der Begrenzung auf einen Mikrokosmos gelitten hätten.
Eine teilnehmende Lehrerin berichtete von ihren Erfahrungen am Berufskolleg mit den älteren und teilweise erwachsenen Schülern: Ihr Schulalltag vor Corona sei geprägt gewesen von „maximalen Herausforderungen im Unterricht bei minimaler digitaler Ausrüstung“. Dann sei auf einmal eine große Lieferung an Tablets gekommen.
Die meisten ihrer Schüler habe sie dennoch während der Lockdown-Phasen gar nicht mehr gesehen. Dagegen hätten Verhaltensauffälligkeiten, auch Gewalt zwischen den Peer-Groups seit Aufhebung der Kontaktsperren zugenommen. „Das soziale Leben hat in dieser Zeit hauptsächlich in den sozialen Medien stattgefunden, das hat die Gräben zwischen einzelnen Gruppen weiter vertieft.“
Das Lernen in der Klasse sei ein Lernen des Umgangs mit Diversität und Differenz. Im digitalen Raum hingegen fehle der direkte Blickkontakt, Kontakte könnten jederzeit abgebrochen werden und das Lernen werde insgesamt wieder hierarchischer, erklärten Bär und Schmidt-Bernhardt.
Nobelpreisträger bedankte sich bei Grundschullehrer
Carl Bossard, Jahrgang 1950, Gründungsdirektor der Pädagogischen Hochschule in Zug und „Lehrer mit Leidenschaft“, macht sich mit seinem „pädagogischen Dreieck“ stark für lebendige Wechselbeziehungen zwischen Lehrperson, Schüler und Lerninhalt. Aus der analogen Welt der Bildung kommend zitierte er Aristoteles und Thomas von Aquin mit dem uralten Wissen, dass „nichts im Kopf ist, was nicht zuerst in den Sinnen war“ – dazu zählt er auch und gerade Bücher.
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„Jeder junge Mensch hat nur eine Bildungsbiografie!“, betonte er mehrfach. Auch auf den aus einfachsten Verhältnissen stammenden Philosophen, Schriftsteller und Nobelpreisträger Albert Camus bezog er sich. Dieser bedankte sich in seiner Nobelpreisrede 1957 außer bei seiner Mutter auch bei seinem Grundschullehrer: „Ohne Ihre Unterweisung und ohne Ihr Beispiel wäre von all dem nichts geschehen“. Camus befürchtete damals schon, dass der Zeitpunkt überschritten sei, an dem der Mensch den technischen Fortschritt noch selbst bestimmt.
Vermessung der Schüler
Auf die Frage: „Digitaler Unterricht – Wer führt wen?“ gab Professor Ralph Lankau von der Hochschule Offenburg Antworten. „Soziale Systeme wie Arbeit, Bildung, Gesundheit, Lernen und Kommunikation zu digitalisieren, heißt: Menschliches Verhalten maschinenlesbar zu machen.“ Denn bei den digitalen Medien im Unterricht handele es sich nicht nur um eine Ergänzung bisheriger analoger Arbeitsmethoden durch neue digitale Arbeitsmittel. Fernunterricht finde zwangsläufig online statt und ermögliche zugleich Datenerhebung und damit die Vermessung von Unterricht, Lernergebnissen und menschlichem Verhalten.
Das Versprechen der Bildungsindustrie, Bildungsprozesse immer weiter zu optimieren und individuell den Bedürfnissen der Schüler anzupassen, bedeute Bildungsmonitoring samt immer detaillierterer Datenerhebung und -auswertung, verdeutlichte Lankau. Und dies möglichst zentral anhand einer Cloud, wie die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit sieben Millionen Euro geförderte Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts.
Die Gefahr der „Vermessung des Kindes“ sei groß, betonte Lankau: Learning Analytics könnten die Interessen und Fähigkeiten der Lernenden, die Schnelligkeit bei der Bearbeitung der Aufgaben, Konzentrationsfähigkeit und Lernbereitschaft vermessen – selbst die Psyche. Dabei helfe die Vereinzelung der Lernenden.
Lankau zitierte den Microsoft Gründer, Philanthrop und Bildungsmäzen Bill Gates: „In Zukunft werden wir Benutzer wie Computer behandeln: Beide sind programmierbar.“ Der Offenburger Professor fordert daher gesicherte IT-Systeme an den Schulen, Datensparsamkeit ohne Lernprofile, keine privaten Geräte an den Schulen.
Für mehr reale Erlebnisse
Die Frage nach dem Menschen und der Menschlichkeit kam in allen Vorträgen und anschließenden Diskussionen immer wieder auf. Sinn und Unsinn neuer pädagogischer Modelle wurden diskutiert. Die Digitalisierung profitiere von der zunehmend bildungspolitisch gesetzten Lernkultur des selbstgesteuerten, kollaborativ-kreativen Lernens samt Spaßfaktor, bei dem die lehrende Person mehr und mehr zum Lernbegleiter werde und Kinder und Jugendliche vernachlässigt und überfordert würden, so ein Tenor.
In einer Welt, die zunehmend von digitalen Systemen geprägt wird, fordern die Wissenschaftler und Pädagogen eine „antizyklische Entwicklung an den Schulen“: Nicht mehr digitale Geräte und Technik sondern mehr Lehrpersonal, mehr Bewegung, mehr reale Erlebnisse als mediengesteuerte Eindrücke; mehr Kunst und Musik in den Schulen und eine Nutzung der digitalen Endgeräte im Werkzeugmodus, bei dem der Mensch das Gerät benutzt und nicht umgekehrt.
Von: Carola Bruhier
2 Antworten
Gibt es von diesen Vorträgen etwas im Internet zu hören?
Hallo Herr Hopp,
gerade erst lese ich Ihre Anfrage. Die Vorträge sind nicht im Internet. Sie können mehr zu dem Thema lesen unter
https://www.aufwach-s-en.de/
https://futur-iii.de/
Als Medienfrau, Journalistin und Mutter bin ich schon seit längerer Zeit in Kontakt mit Prof. Ralf Lankau und dem „Bündnis für humane Bildung“. Ein Buch zur Fachtagung ist in Arbeit.