Schneckenhaus oder Gemeinschaft: Psychologe sieht Gesellschaft am Scheideweg

Die Pandemie hat dazu geführt, dass viele Menschen sich zurückgezogen haben. Der renommierte Psychologe Stephan Grünewald plädiert für mehr Gemeinschaft, um Probleme zu bewältigen. Auch für Kirchen hat er Tipps.
Von Nicolai Franz

Corona, Klimawandel, Ukraine-Krieg – die Deutschen stecken in der Dauerkrise. Der Psychologe Stephan Grünewald sieht die Gesellschaft daher an einem Scheideweg. Die Menschen müssten verstehen, dass sie die gegenwärtigen und künftigen Probleme nur in Gemeinschaft lösen könnten, sagte er am Donnerstag auf dem Moveo Medienkongress in Frankfurt.

In den vergangenen Pandemiejahren hätten sich viele Menschen „in ihr Schneckenhaus zurückgezogen“, da Gemeinschaft schlechter möglich gewesen sei. Doch nun drohe sogar das Schneckenhaus im Winter kalt zu werden. Die Gesellschaft sei bestimmt von einer resignativen Grundhaltung, wie Grünewald aus einer Studie seines Rheingold-Instituts berichtete. Die Menschen hätten sich in einer „Enttäuschungsprophylaxe“ eingerichtet und die Erwartungen angesichts immer wieder abgesagter Pläne in der Pandemie niedrig gehalten. „Sie waren froh, wenn das eigene Leben, um mit Karl Lauterbach zu sprechen, allenfalls einen milden Verlauf nimmt.“

Regierungsspitzen als „Tryptichon“

Der Krieg in der Ukraine habe zunächst einen Schockzustand in der Bevölkerung ausgelöst. Das hänge auch damit zusammen, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht mehr amtiere. Sie sei als „Mutter“ wahrgenommen worden, der man die Krisen der Welt überlassen könne.

Das sei bei der jetzigen Bundesregierung anders. Als sich ergänzendes „Tryptichon“ bezeichnete der Psychologe Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock (beide Grüne). Scholz trete väterlich auf, Habeck als großer Bruder, der transparent und auf Augenhöhe kommuniziert, Baerbock als Politikerin mit „Jeanne d’Arc-Qualitäten“, die auch mal anecke, aber konsequent handle. Diese Politikstile gehörten zusammen: „Das baut sich als psychologische Entwicklungskette auf.“

Nach dem anfänglichen Kriegsschock beobachtete Grünewald in Tiefeninterviews zunehmende Verdrängungsreflexe. Der Hunger nach Ukraine-Nachrichten sei einem „Kriegstinnitus“ gewichen, der den Konflikt lediglich als Hintergrundrauschen registriere. 

Angesichts der vielen parallelen Krisen, die die Menschen freilich in unterschiedlicher Weise träfen, stellte Grünewald fest: Alle müssten verstehen, dass die „Selbstbezüglichkeit“ der vergangenen Jahre weichen müsse, um Platz für ein neues Gemeinschaftsverständnis zu machen.

Menschen blenden den Tod aus

Der Mensch als „Übermensch“, der sich mithilfe digitaler Apps als „grenzenloser Herrscher“ im „digitalen Absolutismus“ gefühlt habe, habe spätestens durch Ukraine-Krieg, Inflation und Energiekrise gemerkt, dass er ein „behindertetes Kunstwerk“ sei: „Wir sind beklemmt.“

Auch in Richtung der Kirchen stellte Grünewald Handlungsbedarf fest. Zwar werde sie durchaus geschätzt als Ort der Seelsorge, Gemeinschaft, Fürsorge, als „Schutzmacht“ gemeinsamer Interessen, für spirituelle Erfahrung und schließlich als Sehnsuchtsort nach Erlösung und Auferstehung. Verschiedene Aspekte hinderten die Kirche jedoch daran, die Menschen auf diese Weise zu erreichen. Grünewald nannte etwa den Missbrauchsskandal oder die Tatsache, dass die Menschen die Frage nach dem Tod ausblendeten – und sie daher auch nicht nach Auferstehung oder Erlösung fragten.

Der christlicher Medienkongress Moveo, der noch bis Freitag in Frankfurt am Main tagt, ist eine Kooperation kirchlicher und anderer christlicher Medienanbieter. Hervorgegangen ist er aus dem Christlichen Medienkongress und „Multiply“ (Media Vision e.V.). Auch die Christliche Medieninitiative pro gehört zu den Organisatoren.

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5 Antworten

  1. „eine Kooperation kirchlicher und christlicher Medienanbieter“
    Aha, Kirchliche sind also keine Christen. Könnte man so lesen.

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    1. Danke für den Hinweis! Das so zu lesen, wäre ein Missverständnis, das wir keineswegs intendieren. Daher haben wir noch ein präzisierendes Wort eingefügt.

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  2. >Menschen blenden den Tod aus

    Warum? In verkürzter Form: „Das beste kommt noch!“

    Zitat aus der „Pilgerreise“ (J. Bunyan) – vgl. dazu auch:
    https://www.bibleserver.com/LUT.EU.ELB.SLT/Offenbarung21 :

    „Als sie nun so der Pforte naher kamen, siehe, da zog ihnen eine Menge himmlischer Bewohner entgegen, zu denen die Glänzenden sprachen: „Dies sind die Männer, die unsern Herrn lieb hatten, als sie in der Welt waren, und die Alles verlassen haben um seines heiligen Namens willen. […]“
    Da jauchzte die himmlische Menge: „Selig sind, die zum Abendmahle des Lammes berufen sind! Nun kamen ihnen auch entgegen mehrere von den Posaunenbläsern des Königs in weißen und glänzenden Kleidern, welche die Himmel erfüllten mit ihren hellen und süßen Klängen, daß es davon wiederhallte.
    […]
    So kamen sie an der Pforte an. Darüber stand mit goldenen Buchstaben geschrieben: Selig sind, die seine Gebote halten, auf daß ihre Macht sei an dem Holze des Lebens und sie zu den Thoren eingehen in die Stadt.
    […]
    Es wurden dem Könige die beiden Zeugnisse hereingebracht und als er sie gelesen, sprach er: „Wo sind die Männer?“ „Sie stehen vor der Pforte,„ hieß es. Da befahl der König: „Machet die Pforte auf, daß hereingehe das gerechte Volk, das den Glauben bewahret.

    Nun sah ich in meinem Traume, daß die beiden Männer zur Pforte eingingen.
    […]“

    So könnte es sein…

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  3. „Die Menschen müssten verstehen, dass sie die gegenwärtigen und künftigen Probleme nur in Gemeinschaft lösen könnten“

    Zu dumm, das man während Corona die Spaltung Gesellschaft absichtlich in Kauf genommen hat. Eine Entschuldigung dafür habe ich auch noch nicht vernommen. Ich sehe mich jedenfalls nicht mehr als Teil einer „Gemeinschaft“. Ich bin ein unabhängiger Bürger, der nur zufällig hier wohnt.

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