In seinem neuen Buch „Wunschdenken“ analysiert Thilo Sarrazin Fehler der gegenwärtigen Politik. Und schlägt vor, wie es besser gehen könnte. Besonders das Thema Einwanderung liegt ihm im Magen. Seine Thesen sind provokant, aber fundiert und damit hilfreich für die Debatte. Eine Rezension von Jonathan Steinert
Von PRO
Foto: pro/Norbert Schäfer
Thilo Sarrazin zeigt in seinem neuen Buch „Wunschdenken”, wie er sich vernünftige Politik im Interesse Deutschlands vorstellt
„Wunschdenken“ heißt das neue Buch von Thilo Sarrazin. Darin analysiert er die Lage der Nation und die Fehler, die er in der gegenwärtigen deutschen Politik sieht. Zudem skizziert er, wie seiner Meinung nach eine Politik im Interesse Deutschlands aussehen müsste. In dieser Hinsicht ist der Titel des Buches mehrschichtig: er könnte sich auf Sarrazins politische Wunschvorstellung beziehen, von denen er nicht annimmt, dass sie in die aktuelle Politik einfließen werden; er könnte aber auch auf die Prämissen des derzeitigen politischen Handelns anspielen. Denn nach Sarrazins Analyse beruht dieses auf utopischen Ideen.
Als utopisch sieht Sarrazin beispielsweise die „Ideologie der Gleichheit“ an. Unzweifelhaft ist für ihn zwar die Norm, dass in einem bürgerlichen Rechtsstaat jeder Mensch vor dem Gesetz gleich ist. Doch die Menschen an sich seien unterschiedlich, woraus sich die Dynamik einer Gesellschaft entwickle. Das sei eng verknüpft mit der individuellen Freiheit: „Wer frei ist, will nicht gleich sein, sondern möchte seine Freiheit auch zur Unterscheidung nutzen.“ Insofern sei mehr Gleichheit nur durch weniger Freiheit zu erreichen.
In dem Zusammenhang kritisiert Sarrazin das Bildungswesen, das immer mehr darauf abziele, beispielsweise durch Inklusion, Unterschiede in Leistung und Begabung unsichtbar zu machen. Auch die Idee hinter der Genderpolitik, die in Männern und Frauen außer den sekundären Geschlechtsmerkmalen keine grundsätzlichen Verschiedenheiten gelten lassen wolle, gehört für Sarrazin zu dieser Utopie. Ebenso, dass menschliche Unterschiede aufgrund von Ethnie, Kultur und Herkunft verneint würden. Dass es diese aber offenbar gibt, zeigt der streitbare SPD-Mann und frühere Berliner Finanzsenator anhand verschiedener Statistiken zur globalen Verteilung des Reichtums, des Bildungsniveaus oder auch der Zahl der Nobelpreise im Verhältnis zur Religion der Preisträger.
Merkels Flüchtlingspolitik ist für Sarrazin nicht nachvollziehbar
Sarrazin nennt dieses Geisteshaltung „utopische Ignoranz“. Sie sei zu einem zentralen politischen Leitmotiv der Gegenwart geworden. Das Problem daran sei, dass Utopien als gesellschaftliche Ziele die individuelle Freiheit einschränken könnten. Als Utopie sieht Sarrazin auch die Vorstellung von einer Welt ohne Grenzen an. Insofern ist Angela Merkels Flüchtlingspolitik für ihn das „größte Sozialexperiment seit der Russischen Revolution“, die „größte politische Torheit, die ein deutscher Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg beging“.
In seinem Buch legt Sarrazin sehr ausführlich dar, warum er diese wie auch andere politische Entscheidungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Geld- und Währungspolitik der EU, für falsch hält. Er fundiert seine Position mit Studien, Statistiken, eigenen Modellrechnungen und Bezügen auf verschiedene Wissenschaftler und Staatstheoretiker. Dabei kommen auch wieder Aspekte vor, für die er in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2010 viel öffentliche Häme und Prügel einstecken musste – und was nach wie vor in seiner Drastik irritiert. Es bleibt zu diskutieren, wie zutreffend diese seine Erklärungen und Schlussfolgerungen sind. So argumentiert der bekennende Agnostiker in Hinblick auf die unterschiedliche Entwicklung von Menschen, Ethnien und Gesellschaften zum Teil sehr darwinistisch und evolutionistisch. Auch stellt er Größen wie Bildungsniveau, Wohlstand, wissenschaftlich-technischen Fortschritt sowie die Geburtenraten in Zusammenhang mit Ethnie, Abstammung und Herkunft – und leitet daraus die Probleme der Einwanderung ab.
Das Thema Einwanderung taucht in dem über 500 Seiten starken Buch immer wieder auf. Sarrazin hält sie für gefährlich für die deutsche kulturelle Identität, wenn sie so abläuft wie im vergangenen Jahr, nämlich ungesteuert und unkontrolliert. Bei der Buchvorstellung in Berlin am Montag sagte Sarrazin auf Nachfrage: „Was mich an Angela Merkel verstört, ist, dass praktisch ihre hohe Intelligenz und Fachkunde und Fähigkeit, sich in ein Problem einzuarbeiten, solch eine Entscheidung hätte unmöglich machen müssen.“
„Deutschland muss nicht die Probleme gescheiterter Staaten lösen“
Sarrazin weist unverhohlen darauf hin, dass ein Großteil der Einwanderer ein schlechteres Bildungsniveau hat als der deutsche Durchschnitt; dass sie aus Ländern kommen, in denen der wissenschaftlich-technische Fortschritt weit zurücksteht und in denen viel mehr Kinder geboren werden als in Deutschland. Sarrazin ist kein Ausländerfeind, wenn er das schreibt. Es folgt ganz seinem Verständnis davon, gut regiert zu werden. Das zentrale Kriterium dafür ist für ihn das „individuelle Wohlergehen jedes Einzelnen“. Das bedeute, dass der Staat zum einen die Freiheit seiner Bürger gewährleisten müsse, damit sie ihr eigenes Glück suchen und finden können. Und zum anderen müsse der Staat für deren Sicherheit sorgen. Dazu gehören für Sarrazin Grenzen ebenso wie eine klar regulierte Einwanderungs- und Asylpolitik.
Er sagt: Wenn Zuwanderung gewünscht ist, dann sollte sich Deutschland die Menschen auswählen, die über eine mindestens durchschnittliche Bildung verfügen und gesellschaftlich-ökonomisch ein Zugewinn sind. Er beklagt, dass die deutsche Politik in der Frage zu sehr moralischen Ansprüchen folgt. Es sei jedoch nicht die Verantwortung Deutschlands, die Probleme gescheiterter Staaten in Afrika zu lösen oder deren Menschen aufzufangen.
Die rechtliche Grundlage für Asyl würde er daher strikt auf „Verfolgung“ einengen. „Die schiere Herkunft aus einer Diktatur, einem Unrechtsstaat oder einem armen, schlecht regierten Land gilt nicht als Asylgrund.“ Seiner Meinung nach sind die Menschen, die fliehen, selbst verantwortlich dafür, die Bedingungen in ihren Ländern zu verbessern. Gesellschaften könnten nur von innen heraus verändert werden. Sarrazin plädiert daher dafür, ein strenges Grenzregime an den Außengrenzen des Schengen-Raumes umzusetzen und Asylgesuche in Monatsfrist zentral und EU-einheitlich zu bearbeiten.
„Journalisten machen Politik“
Journalisten unterstellt Sarrazin, dass es im Grunde zwischen politischen Redakteuren und Politikern keinen Unterschied gebe. „Ein ganz großer Teil der Medien möchte tatsächlich nicht die Wirklichkeit beschreiben, sondern möchte selber Politik machen“, sagte er bei der Präsentation seines Buches. Dabei spricht er aus eigener Erfahrung angesichts der Medienreaktionen auf sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, die er in großer Zahl als nachweislich falsch oder tendenziös identifizierte.
Sarrazin möchte nicht nur kritisieren, sondern legt auch dar, wie er sich eine vernünftige Politik im Interesse Deutschlands vorstellt. Entscheidende Politikfelder sind für ihn neben der Einwanderung die Bildung und die Währung. An deren Entwicklung werde sich Deutschlands und Europas Zukunft entscheiden.
Das Sachbuch lässt sich durch seine klare Struktur und verständliche Sprache trotz des Umfangs gut lesen. Sarrazins Beobachtungen und Analysen sind für sich genommen erhellend, seine Argumentation fundiert und differenziert, wenn auch streitbar. Gerade sein evolutionistischer Erklärungsansatz und seine strikte Haltung zur Einwanderung müssen hinterfragt werden. Außerdem zeigt er kaum Perspektiven dafür auf, wie die deutsche Gesellschaft mit den Flüchtlingen und Migranten umgehen sollte, die bereits im Land sind, und was für ein gelingendes Zusammenleben förderlich wäre.
Nicht alle seine Thesen sind neu. Manche hat Sarrazin bereits in früheren Büchern aufgegriffen, man kennt sie teilweise auch von anderen Kritikern tendenziell linker Regierungspolitik. Auch von der Partei „Alternative für Deutschland“ und Pegida sind ähnliche Töne zu hören. Sarrazin verwahrt sich jedoch dagegen, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden: Wenn in Europa rechte Parteien auf dem Vormarsch seien, dann, „weil die herrschende Politik es versäumt hat, sich mit bestimmten Fragen auseinanderzusetzen“, sagte er bei der Buchvorstellung. Sarrazin scheut sich nicht, diesen Fragen nachzugehen. Auch wenn man mit seinen Schlussfolgerungen nicht übereinstimmen mag, seine Beobachtungen und Kritikpunkte an der Einwanderungspolitik der Bundesregierung lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen. Deshalb kann sein Buch ein Einstieg in eine überfällige Debatte sein, die Realitäten nicht einfach ignoriert oder als belanglos abtut, sondern ernsthafte Antworten darauf findet. (pro)
Thilo Sarrazin: „Wunschdenken“, 576 Seiten, 25,95 Euro, DVA Sachbuch, ISBN 9783421046932
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