Wenn in Österreich am kommenden Sonntag ein neuer Nationalrat gewählt wird, ist das vor allem auch eine bedeutsame Richtungsentscheidung: Nachdem die beiden einstigen Großparteien, die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) und die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) immer stärker an Zuspruch verlieren, könnte zum ersten Mal in der Geschichte Österreichs die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) die stärkste Kraft im österreichischen Parlament werden.
Die Wahl in Wien ist auch über Österreich hinaus von besonderer Bedeutung. Denn die FPÖ gleicht programmatisch in etwa der deutschen AfD und ihr Parteichef Herbert Kickl lobt den ungarischen Premierminister Viktor Orbán als Vorbild, jenen Politiker, der unter dem Namen „illiberale Demokratie“ ein semi-autoritäres System etabliert hat.
Rücktritt des „Wunderkinds“
Doch zunächst die Ausgangslage in Österreich: Nachdem die vergangene Regierung zwischen ÖVP und FPÖ nach dem Ibiza-Skandal geplatzt ist, kam es 2019 zu einer vorzeitigen Nationalratswahl im Land. Seither regiert in Wien eine Koalition zwischen der ÖVP und den österreichischen Grünen. Diese Parteien hatten vor fünf Jahren eine gemeinsame Parlamentsmehrheit zustande gebracht, da die ÖVP unter ihrem damals erst 32-jährigen und zeitweise von vielen als politisches „Wunderkind“ gesehenen Parteichef Sebastian Kurz mit 37,5 Prozent sehr deutlicher Wahlsieger wurde, während auch die Grünen mit knapp 14 Prozent aufgrund der 2019 in ganz Europa intensiven Klimaschutzproteste ihr historisch bestes Ergebnis erreichten. Freilich hatte die österreichische ÖVP-Grünen-Regierung bereits ab 2020 jedoch vor allem die Corona-Pandemie zu managen. Dies führte zwar auch dazu, dass einige Projekte des Regierungsprogramms zunächst hintangestellt werden mussten, jedoch wuchsen die programmatisch oftmals gegensätzlichen Parteien im Krisenmanagement notgedrungen zumindest temporär zusammen.
2021 führten schließlich staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und der politische Druck der Grünen als Koalitionspartner dazu, dass Sebastian Kurz als ÖVP-Chef und Bundeskanzler zurücktreten musste. Öffentliche gewordene Chats zwischen Kurz und seinen engsten Mitarbeitern und Mitstreitern ließen das nur scheinbar perfekte Image des jungen Bundeskanzlers bröckeln: Die Chatnachrichten aus dem damaligen ÖVP-Machtzirkel zeigten einerseits, wie Kurz versuchte, sich günstige Berichterstattung von Boulevardmedien durch üppige Inseratengelder zu erkaufen und ließen andererseits auf eine gewisse Abgehobenheit der beteiligten Akteure (z. B. „Kriegst eh alles, was du willst“ – Sebastian Kurz an seinen Mitstreiter Thomas Schmid) sowie auf Verachtung für politisch Andersdenkende (z. B. „Andere Ideologien; Fu** that“ – Thomas Schmid) schließen.
Seither ist der 52-jährige Wiener Karl Nehammer österreichischer Bundeskanzler und ÖVP-Chef. Der ehemalige Armeeoffizier führte seine Partei nach den kantigen Kurz-Jahren wieder auf einen etwas konzilianteren Kurs und konnte sich etwa in der Ukrainekrise und der damit verbundenen Einwanderung von etwa 70.000 ukrainischen Vertriebenen nach Österreich durchaus als Krisenmanager profilieren. Wobei er die Koalition mit den Grünen meist ohne grobe Konflikte – abgesehen etwa von einem Streit mit der Grünen-Umweltministerin über das EU-Renaturierungsgesetz in diesem Jahr – weiterführte.
Konkurrenz von rechts und links für den Amtsinhaber Nehammer
Nachdem sich Nehammer vor einem Jahr nach einem öffentlich bekannt-gewordenen Handyvideo, in dem er armutsbetroffenen Eltern empfahl, ihren Kindern einen Hamburger beim McDonalds zu kaufen, dem Vorwurf sozialer Kälte aussetzen musste, hat sich sein Image in der Öffentlichkeit mittlerweile stabilisiert. Jedoch muss sich Nehammer bei den Nationalratswahlen gegen den vor allem auf Social Media mit rechtspopulistischen Aussagen punktenden FPÖ-Chef Herbert Kickl durchsetzen. Der verharmlost die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg und schwadronierte zwischenzeitlich gar von Fahndungslisten gegen die Proponenten der ÖVP-Grünen-Regierung. Nehammer muss zudem gegen SPÖ-Chef Andreas Babler punkten.
Babler stammt aus dem linken Flügel der Sozialdemokratischen Partei. Er hat sich nach einem internen Richtungsstreit vergangenes Jahr überraschend gegen seine Vorgängerin Pamela Rendi-Wagner und dem aus dem rechten Flügel der Partei stammenden Ex-Polizisten und Landeshauptmann des Burgenlandes, Hans-Peter Doskozil, durchgesetzt. Mit seinen prononciert-linken Positionen hat sich Babler bei innerparteilichen Kritikern sowie einflussreichen Medien zwar unbeliebt gemacht. Auch sind es vor allem interne Streitigkeiten um den Parteivorsitz, die einen Wahlsieg der SPÖ unwahrscheinlich machen, nachdem diese aufgrund der Unbeliebtheit der ÖVP nach dem Rücktritt vor zwei Jahren zwischenzeitlich in den Umfragen führte. Ein Achtungserfolg des beherzten Wahlkämpfers Babler ist jedoch nicht ausgeschlossen.
Jedenfalls liegt die SPÖ in den aktuellen Wahlumfragen mit etwa 20 bis 22 Prozent an dritter Stelle, die ÖVP mit etwa 25 Prozent auf Platz zwei und die FPÖ mit etwa 26 bis 28 Prozent auf Platz eins. Somit könnte eine rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme Partei vor den Konservativen und den Sozialdemokraten die stärkste Kraft in Österreich werden. Dies bedeutet zwar nicht automatisch, dass die FPÖ auch in die Regierung kommen oder sogar den Bundeskanzler stellen wird. Jedoch gibt es in Österreich anders als in Deutschland keine strikte Brandmauer zwischen den Konservativen und der Rechtsaußen-Partei. ÖVP-Chef Nehammer hat in Interviews dennoch klargestellt, nicht mit FPÖ-Chef Herbert Kickl zusammenarbeiten zu wollen.
Liberale und Grüne als relevante kleinere Parteien
Freilich könnte es nach der Nationalratswahl auch zu einer anderen Koalition kommen. Da ÖVP und SPÖ zum ersten Mal seit 1945 voraussichtlich keine gemeinsame Parlamentsmehrheit mehr zustande bringen werden, könnten hierfür die liberalen NEOS („Das Neue Österreich“) eine Rolle als Zünglein an der Waage spielen. Neben den Grünen sind die NEOS, die etwas linksliberaler als die deutsche FDP ticken, die zweite relevante kleinere Partei in Österreich. Sowohl NEOS als auch die Grünen dürften etwa zehn Prozent erreichen.
Von den Kleinparteien hatten zwischenzeitlich zudem am ehesten die Bierpartei und die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) Chancen, in den österreichischen Nationalrat einzuziehen. Erstere versuchte sich von einer reinen Satirepartei, die etwa die Aufstellung eines Bierbrunnens in Wien und das Verbot von Biermischgetränken wie Radler forderte, hin zu einer seriösen Partei zu entwickeln. Sie legte jedoch kein nennenswertes Wahlprogramm vor. Zweitere stellt in Graz die Bürgermeisterin und in Salzburg den Vizebürgermeister und hat sich dort mit de-facto sozialdemokratischer Wohnpolitik profiliert, vertritt jedoch auch antiamerikanische und zum Teil geschichtsrevisionistische Positionen.
Beide Parteien dürften den Einzug in den Nationalrat laut den aktuellen Umfragen jedoch eher verpassen. Ein österreichisches Kuriosum ist des Weiteren die Liste „Keine von denen“, hinter der sich eine linksextreme Partei versteckt, die durch diesen Namenstrick von Wählern, die ungültig abstimmen möchten, gewählt werden will.
Von Bedeutung werden in Österreich aber freilich vor allem die relative Stärke von ÖVP, SPÖ und FPÖ und die dadurch möglichen Parlamentsmehrheiten und Koalitionsoptionen sein. Da eine von einer rechtsextremen Partei geführte Regierung in einem mittelgroßen EU-Land wie Österreich auch die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, zudem im Kontext des immer noch laufenden Kriegs Russlands gegen die Ukraine, beeinträchtigen könnte, ist die Nationalratswahl in Österreich diesmal auch europaweit von besonderem Interesse.
Von Raffael Reithofer