Der Kirchentagspräsident Hans Leyendecker und die „Panorama“-Moderatorin Anja Reschke, die auch die Abteilung Innenpolitik beim NDR leitet, haben am Freitag auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dortmund über die Opferung Isaaks diskutiert. Beide brachten die Bibelstelle in Genesis 22 über das Gottvertrauen von Abraham mit persönlichen Erlebnissen aus ihrem Journalistenalltag in Verbindung.
Das sei ein Text aus der hebräischen Bibel, der es schwer mache, ihn zu verstehen, sagte Leyendecker zum Auftakt. Reschke, die in der Westfalenhalle ihre allererste Bibelarbeit im Leben hielt, schilderte ihre spontane kritische Reaktion auf den Text: „Wo ist denn hier der gütige und gute Gott, den ich aus dem Gottesdienst kenne? Er tritt fast auf wie ein Despot. Warum braucht Gott das? Warum ist Abraham so devot und hat kein Rückgrat? Warum hinterfragt er nicht?“
Reschke: „Ich kann und will so einen Gehorsam nicht ertragen“
Leyendecker stellte die Bibelstelle in einen größeren Zusammenhang: „Der Text stammt vermutlich aus dem sechsten oder fünften vorchristlichen Jahrhundert.“ Es sei die Zeit des zerstörten Tempels und des Babylonischen Exils. In dieser vertrauenserschütternden Zeit trete eine Figur wie Abraham auf, der für seine Gottestreue bekannt gewesen sei. „Ich kann und will so einen Gehorsam nicht ertragen. Das ist für mich Kadavergehorsam“, beschreibt Reschke ihre Reaktion auf Gottes Auftrag an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern.
„Ich sehe einen Tunnelblick bei Abraham“, erwiderte Leyendecker. Wichtig sei, dass der Leser sich auf einen Perspektivwechsel einlasse. „Am stärksten sind Bibelstellen, wenn sie unsere Vorstellungen hinterfragen“, sagte Leyendecker. „Ich habe Menschen wegen der vermeintlich guten Sache an den Pranger gestellt. Menschen mussten zurücktreten. Ich habe auch Fehler gemacht“, gestand der ehemalige Investigativjournalist der Süddeutschen Zeitung. Früher habe er über sich gesagt, dass er „berufsverändernd“ wirke – das habe er originell gefunden. „Heute weiß ich, dass es auch etwas Verächtliches hat“, sagte Leyendecker. Plötzlich hätte so die Geschichte um Abraham auch etwas mit ihm zu tun, obwohl er bei seiner journalistischen Arbeit niemandem ein Messer an den Hals gehalten habe.
„Mach nie Protagonisten zu Opfern!“
Auch Reschke erzählte aus ihrem Arbeitsalltag und davon, wie ihre journalistische Karriere begann. „Bei einem Beitrag über Pensionskosten brauchten wir Bilder von Pensionären“, sagte sie. Sie und ihre Kollegen besuchten die Wasserschutzpolizei und trafen auf nette Menschen, die von ihren Biografien erzählten und den Journalisten vertrauten – so wie Isaak seinem Vater. Später seien sie lediglich als „Bildfutter“ in einem TV-Beitrag „verwurstet“ worden. Reschke habe einen Brief des Vorsitzenden der Wasserschutzpolizei erhalten, in dem er seine Enttäuschung über die Aktion ausdrückte. „Ich habe mich wahnsinnig geschämt“, sagte Reschke. Daraus leitete sie ihren persönlichen Grundsatz ab, den sie auch immer an Nachwuchsjournalisten weitergebe: „Macht nie Protagonisten zu Opfern!“ Sie habe es nie wieder getan.
Die Journalistin sprach auch über ihren Tagesthemen-Kommentar im Sommer 2015, wo sie deutlich machte, was sie von Rassisten in Deutschland hält. „Ich kam mir nicht besonders mutig vor“, erinnerte sie sich. Diese Phase beschrieb sie als „abwartende Stille“ in der Gesellschaft, in der nicht einmal der Bundespräsident etwas gegen die Abwertung von Menschen mit anderer Hautfarbe gesagt habe. „Ich dachte, die Botschaft, dass Menschen gleich sind, ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Ich musste lernen, dass dem nicht so ist“, sagte Reschke, die nach dem Kommentar einerseits mit Liebe und andererseits mit Hass aus der Bevölkerung überschüttet wurde.
Die Medien hätten sie in Schubladen stopfen und sie zum Opfer machen wollen. Dabei habe sie ein Stück ihres Grundvertrauens verloren. „Bin ich also Isaak?“, fragte sie im Bezug auf die Bibelstelle. Bis zu Abrahams Begräbnis tauche Isaak dann nicht mehr in der Bibel auf. „Abhauen ist keine Lösung“, sagte Reschke.
Leyendecker: Gott will keine Opfer
Bei einem genaueren Blick tauge Abraham aber vielleicht doch zum Vorbild, fand Leyendecker. „Er hat sein Vertrauen auf Gott gesetzt. Er war mutig.“ Der Kirchentagspräsident findet das Ende der Geschichte ganz klar: „Gott will keine Opfer. Wenn wir Jesus am Kreuz sehen, sehen wir Gott, der sich selbst zum Opfer macht, weil die Menschen seine bedingungslose Liebe nicht ertragen haben. Ich denke, das macht Gott glaubwürdiger, weil er ein mitleidender Gott ist – auch in unseren dunkelsten Stunden.“ Seine Lektion aus der Bibelstelle bekam den größten Applaus des Publikums: „Wir sollten Gottes Nein zu Menschenopfern mitnehmen. Gottes Nein zu Menschenopfern auf Flüchtlingsbooten, zu Menschenopfern in den Kleiderfabriken Südostasiens, zur Zerstörung der Erde und auf den Müllkippen auf den Philippinen.“
Mit der Zeit habe sich die Geschichte um Abraham und Isaak in Reschkes Kopf verändert. „Der Gedanke, dass Abraham einfach an das Gute glaubt und dass sich das Blatt wendet, wenn man an das Gute glaubt, gefällt mir. Wir müssen vertrauen. Wir sind Menschen“, sagte Reschke. „Wann und wie weit muss man Vertrauen schenken und ab wann ist meine Freiheit dabei bedroht? Das ist die Frage, die ich aus dem Text mitnehme.“
Von: Michael Müller