Religionswissenschaftlerin: „Angst vor Christen tief in jüdischer Identität verwurzelt“

Viele Juden in Israel betrachten Christen als Bedrohung. Deshalb kommt es immer wieder zu Übergriffen auf christliche Stätten, Ordensleute und Pilger, zeigt ein aktueller Bericht.
Von Norbert Schäfer

Übergriffe auf Christen in Jerusalem haben in den letzten Jahren zugenommen. Das zeigt ein Bericht des „Rossing Center for Education and Dialogue“ am „Jerusalem Center for Jewish-Christian Relations“ (JCJCR). Hana Bendcowsky, Programmdirektorin am JCJCR, betont in einem Interview mit „Domradio“, dass dies auf eine zunehmend radikalisierte israelisch-jüdische Gesellschaft und historische Feindseligkeiten zwischen Juden und Christen zurückzuführen sei.

Für die Untersuchung hat die Religionswissenschaftlerin Daten aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, darunter Anzeigen, Polizeiberichte, Interviews, Medienberichte und Befragungen in Gemeinden. Die meisten Konflikte hätten sich 2023 zwischen Juden und Christen am Rande der Altstadt von Jerusalem ereignet. Besonders betroffen sind demnach ausländische Christen, die oft nicht als Teil des israelisch-palästinensischen Konflikts wahrgenommen werden. Im Bericht lautet es: „Das Jahr 2023 verzeichnete auch eine besorgniserregende Zunahme von schweren Sachbeschädigungen und körperlichen Übergriffen, insbesondere gegen Gemeinschaften wie die Armenier in der Altstadt und das polnische Kloster in der Nähe von Mea Shearim.“ Was die Identität der Angreifer angeht, zeigen die Daten, dass die Mehrheit der Angreifer jüdische Personen sind, vor allem junge Männer, die sich mit dem religiös-zionistischen Lager identifizieren und ultranationalistischen Haltungen zuzuordnen sind.

Täter meist „orthodoxe Nationalisten“

Der Bericht nennt für 2023 sieben Fälle verbaler Belästigung von Christen durch Juden, viermal wurden Zusammenkünfte von Christen gestört. Sieben Fälle von gewalttätigen Übergriffen, fast alle davon mit mehreren Opfern, und 30 Spuckattacken auf Christen verzeichnet der Bericht. Zudem wurden 2023 dem Bericht zufolge 32 Fälle von Angriffen auf kirchliches Eigentum, einschließlich wiederkehrende Unruhen, versuchter Hausfriedensbruch, Steinewerfen und andere Formen gezielter Angriffe auf Grundstücke dokumentiert.

Vor rund 20 Jahren erfolgten die Übergriffe überwiegend von ultraorthodoxen Juden, heute seien vor allem „orthodoxe Nationalisten“ dafür verantwortlich. Die historischen Beweggründe für die Spannungen zwischen Juden und Christen reichen nach Ansicht der Religionswissenschaftlerin zurück bis zur Entstehung des Christentums, als sich die beiden Gemeinschaften aufgrund unterschiedlicher Textinterpretationen trennten. Diese Meinungsverschiedenheiten hätten sich zu einer tiefen Abneigung und Abgrenzung entwickelt. Juden hätten im Laufe der Jahrhunderte diese Abgrenzung als Teil ihrer Identität angenommen, besonders in Situationen, in denen sie in der Minderheit waren, und betrachteten Christen oft als Verfolger und Bedrohung, erklärt die Forscherin im Interview. Mit dieser belasteten Geschichte seien Juden vor 80 Jahren nach Israel gekommen.

Heute sei die Situation in Israel anders: Juden seien nicht mehr in der Minderheit, sondern bildeten die Mehrheitsgesellschaft. Dennoch bewahrten viele Juden eine Mentalität der verfolgten Minderheit, mit dem Gefühl, dass „die ganze Welt gegen uns ist, also auch die Christen.“ Viele in Israel aufgewachsene Menschen hätten kaum positive Erfahrungen mit Christen, da es in ihrem Umfeld nur wenige gebe und sich das Wissen über Christen größtenteils aus historischen Darstellungen aus Geschichtsbüchern speise. „Viele Juden betrachten Christen also als die große, ultimative Bedrohung“, erklärte Bendcowsky, in dem Domradio-Interview. Bendcowsky: „Diese Angst sitzt so tief in unserer Identität verwurzelt, dass wir sie auch heute nicht loswerden.“

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