Religionssoziologen: „Kirche hat religiöse Dimension fast verloren“

Führende Religionssoziologen empfehlen den christlichen Kirchen einen radikalen Wandel. Sie sollten sich auf ihre religiösen Kernaufgaben wie überzeugende Predigten rückbesinnen. Andernfalls gehe das Vertrauen der Menschen „endgültig verloren“.
Von PRO
Die Wissenschaftler trafen sich zum Symposium „Was wird aus den christlichen Kirchen Deutschlands?“: Franz-Xaver Kaufmann, Karl Gabriel, Michael Ebertz, Detlef Pollack und Gerhard Wegner (v.r.)

Die christlichen Kirchen in Deutschland brauchen nach Einschätzung führender Religionssoziologen einen radikalen Wandel. Sie sollten ihre Religiosität und ihre Strukturen dringend erneuern, sonst gehe das Vertrauen der meisten Menschen endgültig verloren, sagten der Sozialethiker Karl Gabriel und der Soziologe Michael Ebertz am Freitagabend in Münster. Die Wissenschaftler äußerten sich auf dem Symposium „Was wird aus den christlichen Kirchen Deutschlands?“ des Centrums für Religion und Moderne und des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Uni Münster. Es gehe um eine überzeugendere Glaubensverkündigung und einen Weg „von der Kleriker- zur Laienkirche“. Ebertz sprach von einem „Transformationsprozess, der einer Revolution gleichkommt“. Der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann führte an: „In den Kirchen dominieren das Geld und das Recht. Die religiöse Dimension ist fast verloren gegangen.“
„Entscheidend wird sein, ob die katholische und die evangelische Kirche ihre religiöse Botschaft künftig so anbieten, dass die Menschen sie als überzeugende Lebensdeutung annehmen“, unterstrich Gabriel. Das könne im persönlichen Gespräch genauso gelingen wie in der Sonntagspredigt.
Der Bochumer Religionswissenschaftler Volkhard Krech plädierte für eine Rückbesinnung der evangelischen Kirche „auf ihre Stärken wie rhetorisch überzeugende Predigten und eine theologische Sprache“. Die religiöse Kernaufgabe der Geistlichen solle wieder im Mittelpunkt stehen. „Wenn Pastoren nur Lebensberatung anbieten, ist das ein Ausverkauf.“ Im gesellschaftlichen „Wettbewerb um Lebenswahrheit“ müsse die Kirche ihre christliche Deutungskompetenz gegen „technokratische Irrsinnsfantasien“ verteidigen, sagte Krech.

Katholische Kirche kann von evangelischer lernen

Die katholische Kirche wird sich nach Einschätzung von Ebertz aus Mangel an Priesternachwuchs „in einem Prozess des radikalen Wandels von einer Priesterkirche zur Laienkirche“ entwickeln. „Wir sind Zeitzeugen des Umbruchs. Was für Protestanten Programm war, ist für Katholiken zum Schicksal geworden: das Priestertum aller Gläubigen.“ Die Laien stehen dem Wissenschaftler zufolge künftig vor der doppelten Herausforderung, innerhalb der Kirche mehr Verantwortung zu übernehmen und außerhalb für ihre Botschaft einzustehen. Dazu seien neue Strukturen nötig: „Wer die Kirchen zukunftsfähig machen will, braucht Gewaltenteilung und synodale Strukturen der Mitverantwortung und Mitwirkung im System.“ Dabei kann die katholische Kirche nach Meinung von Gabriel von der evangelischen lernen: „Die katholische Priesterkirche ist jetzt mit vielem konfrontiert, etwa mit der zunehmenden Laisierung, womit die evangelische Kirche eine lange Lernerfahrung hat. Deshalb ist ein ökumenischer Dialog wichtig.“
Von einem „Verfall des Christentums“ lässt sich laut Sozialethiker Gabriel trotz steigender Kirchenaustritte und einer sinkenden Gottesdienstteilnahme nicht sprechen. „Das religiös Christliche ist in der Gesellschaft diffus vorhanden. Es ist stärker, als wir zunächst wahrnehmen.“ Für das Verständnis der Gesellschaft werde man auf das Christentum nicht verzichten können. „So viele überzeugende Alternativen zum Angebot der Kirchen gibt es nicht.“ Auch Kaufmann sagte, „das kollektive Ethos in Deutschland ist deutlich stärker vom Christentum geprägt als in vielen anderen Ländern.“

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