Religionssoziologe: Missbrauch nicht alleiniger Grund für Mitgliederschwund

Der Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche hat das Vertrauen in die Kirche erschüttert. Immer mehr Menschen wenden sich ab und treten aus. Das sei auch eine Folge langfristiger Prozesse, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack.
Von Norbert Schäfer
Der Religionssoziologe Detlef Pollack

Der Mitgliederschwund der Kirchen, zunehmende Entkirchlichung und Säkularisierung sind zum großen Teil Folgen langwirkender Vorgänge und nicht allein den Missbrauchsfällen und deren Aufarbeitung geschuldet. Das hat der Religionssoziologe Detlef Pollack in einem Online-Gespräch mit dem Direktor der Katholischen Akademie Berlin, Joachim Hake, am Donnerstag erklärt. Ursache seien „Prozesse, die sozusagen über Jahrzehnte und Jahrhunderte ablaufen und in die viele Faktoren hinein spielen.“

Pollack belegte das an einem Beispiel. Bevor 2010 die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich wurden, waren im Jahr 2009 0,5 Prozent der Kirchenmitglieder aus der Katholischen Kirche ausgetreten. Als 2010 die Missbrauchsfälle diskutiert wurden und es öffentlich viel Empörung über die Katholische Kirche gab, sei die Austrittsrate von 0,5 Prozent auf 0,73 Prozent gestiegen. „Wer die Zahlen noch nie gesehen hat, wird von der Kleinheit der Zahlen überrascht sein“, sagte Pollack in dem Online-Gespräch „zwei nach zwölf. Gespräch über Gott und die Welt“ der Katholische Akademie in Berlin.

Wer nur diese beiden Werte betrachte stelle zwar fest, dass die Zahl der Austritte etwa um die Hälfte angestiegen sei, übersehe aber andere Faktoren, die zu Austritten führten. Das zeigten die empirische Daten. „Der Bestand der Kirchenmitglieder ist etwa ebenso stark dadurch bedroht, dass Eltern – also Menschen, die in der Kirche sind – ihre Kinder nicht mehr taufen lassen und sie auch nicht mehr christlich erziehen“, erläuterte der Religionssoziologe. Die Kirchen hätten nur bedingt Einfluss auf die Entwicklung ihrer Mitgliederzahlen.

Hohe Moral, große Fallhöhe

Die Zahlen zeigten, dass die Austritte aus evangelischer und katholischer Kirche parallel verliefen, obwohl die Theologie, Strukturen und das Bild der beiden Kirchen unterschiedlich seien. Pollack betonte, dass er keinesfalls die aktuellen Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche verharmlosen oder kleinreden wolle. „Die Kirchen sind von den Austritten gleichermaßen und in der Form gleicher Muster betroffen“, sagte der Wissenschaftler.

Evangelische und Katholische Kirchen hätten viel weniger Möglichkeiten auf ihr eigenes Schicksal Einfluss zu nehmen, als das in der öffentlichen Diskussion und den Medien dargestellt und diskutiert werde. Die Kirchen würden mit hohen theologischen und moralischen Ansprüche auftreten. Dem gegenüber stünden die Missbrauchsfälle. Das erzeuge eine große „Fallhöhe“ und bediene „die Logik der Medien und der öffentlichen Skandalisierung“. Pollack: „Die Katholische Kirche kann sich mehrfach reformieren und zeigen, wie wandlungsfähig sie ist. Trotzdem wird dieser Abwärtstrend ganz sicher nicht gestoppt werden können.“ Die Steuerungsfähigkeit der Kirchen hinsichtlich ihrer Mitgliederbestände und der Bindungsfähigkeit dürften nicht überschätzt werden, bilanzierte er.

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Eine Antwort

  1. Der Abwärtstrend betrifft Deutschland. Ein Blick über den Tellerrand zeigt, dass die katholische Kirche wächst:
    „Weltweit verzeichnet die katholische Kirche auf Grund des allgemeinen Bevölkerungswachstums auch einen Zuwachs in der Mitgliederzahl. Sie zählte 2009 1,17 Milliarden Mitglieder, bei einem Zuwachs von 19 Millionen Mitgliedern bzw. 1,6 % gegenüber dem Vorjahr. Bis 2014 stieg die Mitgliederzahl auf ca. 1,3 Milliarden Katholiken weltweit.“
    https://de.wikipedia.org/wiki/Mitgliederentwicklung_in_den_Religionsgemeinschaften#Weltweite_Situation

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