Ulrich Schnabel untersucht in seinem Beitrag, was Menschen von der Religion lernen können. Er verweist auf Forscher und Philosophen, die wieder vermehrt Vorteile des religiösen Denkens für sich entdecken. Einer von ihnen ist Alain de Botton, der eine "Krise der Glaubenslosigkeit" durchgestanden habe. Mit der Religion verknüpfe dieser neben unglaublichen Behauptungen auch eine Vielzahl wertvoller Errungenschaften. Heute bekennt er: "Religionen sind zu nützlich, wirksam und intelligent, als dass man sie den Religiösen allein überlassen sollte." Die Religion sorge sich um die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen. Er versuche deswegen eine Brücke zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu bauen "und religiöse Rituale auf ihre positiven Seiten hin abzuklopfen".
Aus Sicht des Religionspsychologen Robert McCauley existiere der gern zitierte Widerspruch von Theologie und Wissenschaft gar nicht: "Der wahre Gegensatz zur Theologie bestehe im populären Volksglauben, der etwa Gott eher als eine Art Superhelden sieht denn als theologisch korrekte Dreieinigkeit aus Vater, Sohn und Heiligem Geist." Ein Grund für die weltweite Verbreitung religiösen Denkens ist laut "Zeit Wissen" der Placebo-Effekt. Weil der Mensch nicht nur von der biologischen Materie lebe, sondern eben auch von seinen Gedanken, Vorstellungen und Hoffnungen, wirkten diese immer auch auf den Körper zurück. Dadurch könne ein entsprechender Glaube Berge versetzen. Als psychologische Schattenseiten werden religiöse Intoleranz gegen Ungläubige und fundamentalistisches Beharren auf der eigenen Wahrheit bezeichnet.
Religiöses System schweißt die Jünger zusammen
Positiv sei, dass ein religiöses System seine Jünger zusammenschweiße. Die Vorstellung eines omnipräsenten Gottes führe auch dazu, dass Menschen sich ehrlicher und moralischer verhielten, "wenn sie sich beobachtet fühlen". Um Moral aufrecht zu erhalten, brauche man Religion heute nicht mehr unbedingt. Es gebe aber noch weitere "weichere Qualitäten" des Zusammenlebens, "die in Begriffen wie Nächstenliebe oder Demut zum Ausdruck kommen". De Botton ist überzeugt: "Die Weisheit der Religion gehört allen Menschen, selbst den rationalsten unter uns, und sie verdient es, dass ihre besten Teile auch von den größten Gegnern des Übernatürlichen wieder aufgegriffen werden."
"Obwohl uns die Religion immer weniger angeht, werden wir religiöser", meint Christian Schüle: "Der Mensch glaubt, weil er gar nicht anders kann, als zu glauben." Verschiedenste Menschen pilgerten oder besuchten Akademien, um an das Übersinnliche anzudocken. Der Blick gehe dabei immer nach oben, dorthin, wo es offen und unbestimmt ist. Sogar der Atheist habe die Fähigkeit zu glauben, weil er die Fähigkeit habe, das Andere zu denken. Hinzu komme, dass der Mensch als "prosoziales Wesen" von Geburt an das Bedürfnis nach Beziehung habe: "Religiöser Glaube ist für ihn die Beziehung nach einer Vaterfigur", bilanziert Schüle.
Ohne den Glauben geht gar nichts
In seinem Artikel verweist er auf diverse wissenschaftliche Studien. Dabei ist der Aspekt interessant, dass man für verschiedene Glaubensrichtungen und Kulturen ein identisches Hirnareal annehmen könne. Religiöse Erfahrungen seien auch physiologisch betrachtet die intensivsten emotionalen Erlebnisse. Aus wissenschaftlichen Studien gehe zudem hervor, dass Gläubige gesünder seien als Nichtgläubige. Die höhere Lebenserwartung hänge oft mit deren Gesundheitsverhalten zusammen: "Glaube steigert also das subjektive Wohlbefinden – auch das des Atheisten: der freilich glaubt, dass es Gott nicht gibt. Daran aber glaubt er."
Ohne den Glauben kann aus Schüles Sicht die Welt nicht funktionieren, weil die eigentliche Währung des Religiösen das Vertrauen sei. So gehe es jedem Menschen, egal ob Atheist, Christ, Chemiker oder Bäcker, um die Hoffnung auf die für ihn ideale Ordnung. "Um die Geborgenheit im Diesseits. Um das Heil in der Gemeinschaft. Um den Rausch der spirituellen Erfahrung. Im Vertrauen versichert sich das Individuum seiner selbst. Wer glaubt, hofft. Wer hofft, vertraut. Und wer vertrauen kann – lebt der nicht glücklicher?"
Rasant zunehmende Anzahl an Christen
Der renommierte Soziologe Hans Joas sieht im dritten Beitrag zum Titelthema derzeit "eine der größten Expansionsphasen des Christentums in der Geschichte". Dennoch glaubt er, dass eine Gesellschaft auch ohne Religion stabil sein könne. Dass in China, Südkorea und Afrika die Zahl der Christen rasant zunehme, werde in Europa schlicht nicht wahrgenommen. Die Botschaft des Christentums enthalte eine "unerhörte Aktualität". Dass Nichtgläubige zwangsläufig unglücklicher und unmoralischer seien als Christen, verneint Joas und verweist auf Schweden.
Die Kirchen dürften nicht wie politische Parteien agieren und in allen Fragen populäre Haltungen einnehmen. Andererseits müssten Neuerungen innerhalb der Institution möglich sein. Dazu gehört für den Katholiken Joas auch, Frauen zum Priesteramt der katholischen Kirche zuzulassen. Darüber hinaus wünscht er sich: "Ich würde in einem vom Säkularismus geprägten Zeitalter jeder Religionsgemeinschaft raten, die Existenz anderer Religionen grundsätzlich zu begrüßen." Wie man das Geläut der Kirchenglocken akzeptiere, könne man auch den Ausrufer auf dem Minarett respektieren. Joas lehrt derzeit an der Universität Chicago. Er forscht unter anderem zu Fragen der gesellschaftlichen Säkularisierung. (pro)