In den vergangenen Jahren haben verschiedene Wissenschaftsdisziplinen
versucht, neue Antworten auf die Frage zu geben, woher Begriffe wie
Moral und Sünde stammen. "Die Frage nach der Herkunft der Moral werden
Menschen wohl nie abschließend beantworten können", erklärt der
Frankfurter Biologe Jürgen Bereiter-Hahn auf "Spiegel Online". Viele
Forscher glauben, dass die menschlichen Wertvorstellungen auf die
Prozesse natürlicher Auslese zurückzuführen sind.
Der Evolutionsbiologe Pascal Boyer von der Washington University in St. Louis etwa deutet Religion als hilfreiches Konstrukt des menschlichen Geistes. Seine These lautet: Wer glaubt, kommt besser durchs Leben. Religiöse Menschen hätten sich deshalb in der Geschichte gegen Nichtreligiöse durchgesetzt und Gläubige in der Selektion über Ungläubige triumphiert. Ein weiterer Faktor, der den Menschen "fast zwangsläufig zum Glauben bringt", sei auch die Fähigkeit zum kausalen Denken. Bei allem, was geschehe, suche der Mensch nach einem Grund, so der Wissenschaftler.
Glaube als Nebenprodukt anderer Eigenschaften
Der Biologe Richard Dawkins, Autor des Buches "Der Gotteswahn", bezweifelt, dass die Selektion Religiosität begünstigt. Für ihn ist der Glaube ein "Nebenprodukt anderer menschlicher Eigenschaften" – zum Beispiel der Unterordnung unter Autoritäten. "Ein Gehirn, das glaubt, was Autoritäten sagen, kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem guten Rat und dem törichten Befehl", so Dawkins gegenüber dem "Spiegel".
Bestätigung erhält der Brite bei seinen Thesen von Daniel Wisneski (Universität Illinois). Der Wissenschaftler hatte im vergangenen Jahr 700 Amerikaner befragt, wie sehr sie den Urteilen des Obersten Gerichtshofs zur aktiven Sterbehilfe trauen. Das Ergebnis ist: Je religiöser die Befragten waren, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Autorität des Gerichtes zustimmten. Wisneski interpretiert Religiosität als Folge von Autoritätsgläubigkeit.
Nicht nur Dawkins bestreitet, dass sich die Kirche als "Erfinder der Moral" fühlen darf. Auch der Evolutionsbiologe Jürgen Bereiter-Hahn (Universität Frankfurt) meint, dass sich "Moral und Religion getrennt entwickelt haben" und die Moral eventuell schon vor der Religion entstanden sei. "Die Menschen haben immer sozial und damit nach Regeln gelebt. Darin sehe ich den Ursprung der Moral", so der Wissenschaftler gegenüber "Spiegel Online". Der Anfang der Religion liege hingegen in der Naturreligion. Die Menschen hätten fast allem eine göttliche Kraft zugeschrieben, die über die eigene Erkenntnis hinausgehe, so Bereiter-Hahn. Somit könne auch erst später die Verbindung von Moral und Religion gelegt worden sein.
Moralvorstellungen passen sich der Gesellschaft an
Ludwig Siep, Philosoph an der Universität Münster, vermutet mehrere kulturhistorische Quellen der Moral: verlässliche Verabredungen, das Lob von Tugenden, Helden, große Ziele und die Scheu vor Tabuverletzungen. Der Münchener Soziologe Armin Nassehi interpretiert Moral einerseits als "Generator von konventionell richtigem Verhalten", andererseits als abstraktere Regel von Gut und Böse. "Man kann sehen, dass sich Moralvorschriften der jeweiligen evolutionären Situation einer Gesellschaft anpassen", sagt er gegenüber "Spiegel Online". Die Lehre Darwins reiche ihm als alleinige Erklärung von Moral nicht aus.
Auch Theologen bestreiten, dass der Glaube allein durch Evolution zu erklären ist. "Die evolutionsbiologische Hinführung zur Moral ist wichtig, aber nicht ausreichend", sagt Wolfgang Achtner von der Universität Gießen. Er ist Direktor des Transscientia-Institutes, das den interdisziplinären Dialog zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Religion fördert. Die in der Bibel geforderte Feindesliebe etwa könne aus evolutionsbiologischer Sicht sehr nachteilig sein, wenn ein Mensch mit seinem Leben dafür bezahlt. "Für verfeindete Gruppen hingegen kann es langfristig von Vorteil sein", so der Gießener Theologe. Die gleichzeitige Präsenz Gottes im Diesseits und Jenseits wirke als Korrekturfaktor und beeinflusse die Entwicklung der Moralvorstellungen.
Wo wird die Spiritualität von Menschen beeinflusst?
Eine aktuelle Studie der italienischen Universität Udine hat herausgefunden, dass die Fähigkeit des Menschen, sich als Teil von etwas Größerem zu begreifen, offenbar in bestimmten Gehirnarealen verortet ist. Wie die "Süddeutsche Zeitung" meldet, untersuchten die Forscher bei Patienten mit Hirntumoren die Fähigkeit, sich nicht nur als Ich, sondern als Teil eines großen Ganzen zu fühlen.
Die Wissenschaftler fanden heraus, wie sich diese Eigenschaft veränderte, wenn die Tumore entfernt wurden, und glichen dies mit denen durch die Operation verursachten Schäden ab. Demnach können die hinteren Scheitellappen des Großhirns maßgeblich die Spiritualität eines Menschen beeinflussen, so die Forscher.
Bestimmte Verletzungen dieser Region, so der Leiter der Studie, Cosimo Urgesi, verstärkten bei den Patienten das Gefühl der Selbst-Transzendenz und beeinflussen somit die spirituelle und religiöse Haltung eines Menschen, folgern die Forscher. In weiteren Studien soll nun überprüft werden, ob sich durch das vorübergehende Ausschalten der Aktivitäten dieser Hirnregionen bei gesunden Menschen das spirituelle Empfinden beeinflussen lässt.
"Dunkle Wasser mit windschnittigen Wissenschaftsyachten"
Es sind "dunkle Wasser", auf denen die Forscher mit "windschnittigen Wissenschaftsyachten" herum schippern, sieht der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf Erklärungsversuche von Boyer eher skeptisch. Es sei bei der Entstehung der Moral des Menschen niemand dabei gewesen, konstatiert Bereiter-Hahn, deswegen könne man auch in Zukunft nur "mutmaßen". (pro)
Glaube als Nebenprodukt anderer Eigenschaften
Der Biologe Richard Dawkins, Autor des Buches "Der Gotteswahn", bezweifelt, dass die Selektion Religiosität begünstigt. Für ihn ist der Glaube ein "Nebenprodukt anderer menschlicher Eigenschaften" – zum Beispiel der Unterordnung unter Autoritäten. "Ein Gehirn, das glaubt, was Autoritäten sagen, kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem guten Rat und dem törichten Befehl", so Dawkins gegenüber dem "Spiegel".
Bestätigung erhält der Brite bei seinen Thesen von Daniel Wisneski (Universität Illinois). Der Wissenschaftler hatte im vergangenen Jahr 700 Amerikaner befragt, wie sehr sie den Urteilen des Obersten Gerichtshofs zur aktiven Sterbehilfe trauen. Das Ergebnis ist: Je religiöser die Befragten waren, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Autorität des Gerichtes zustimmten. Wisneski interpretiert Religiosität als Folge von Autoritätsgläubigkeit.
Nicht nur Dawkins bestreitet, dass sich die Kirche als "Erfinder der Moral" fühlen darf. Auch der Evolutionsbiologe Jürgen Bereiter-Hahn (Universität Frankfurt) meint, dass sich "Moral und Religion getrennt entwickelt haben" und die Moral eventuell schon vor der Religion entstanden sei. "Die Menschen haben immer sozial und damit nach Regeln gelebt. Darin sehe ich den Ursprung der Moral", so der Wissenschaftler gegenüber "Spiegel Online". Der Anfang der Religion liege hingegen in der Naturreligion. Die Menschen hätten fast allem eine göttliche Kraft zugeschrieben, die über die eigene Erkenntnis hinausgehe, so Bereiter-Hahn. Somit könne auch erst später die Verbindung von Moral und Religion gelegt worden sein.
Moralvorstellungen passen sich der Gesellschaft an
Ludwig Siep, Philosoph an der Universität Münster, vermutet mehrere kulturhistorische Quellen der Moral: verlässliche Verabredungen, das Lob von Tugenden, Helden, große Ziele und die Scheu vor Tabuverletzungen. Der Münchener Soziologe Armin Nassehi interpretiert Moral einerseits als "Generator von konventionell richtigem Verhalten", andererseits als abstraktere Regel von Gut und Böse. "Man kann sehen, dass sich Moralvorschriften der jeweiligen evolutionären Situation einer Gesellschaft anpassen", sagt er gegenüber "Spiegel Online". Die Lehre Darwins reiche ihm als alleinige Erklärung von Moral nicht aus.
Auch Theologen bestreiten, dass der Glaube allein durch Evolution zu erklären ist. "Die evolutionsbiologische Hinführung zur Moral ist wichtig, aber nicht ausreichend", sagt Wolfgang Achtner von der Universität Gießen. Er ist Direktor des Transscientia-Institutes, das den interdisziplinären Dialog zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Religion fördert. Die in der Bibel geforderte Feindesliebe etwa könne aus evolutionsbiologischer Sicht sehr nachteilig sein, wenn ein Mensch mit seinem Leben dafür bezahlt. "Für verfeindete Gruppen hingegen kann es langfristig von Vorteil sein", so der Gießener Theologe. Die gleichzeitige Präsenz Gottes im Diesseits und Jenseits wirke als Korrekturfaktor und beeinflusse die Entwicklung der Moralvorstellungen.
Wo wird die Spiritualität von Menschen beeinflusst?
Eine aktuelle Studie der italienischen Universität Udine hat herausgefunden, dass die Fähigkeit des Menschen, sich als Teil von etwas Größerem zu begreifen, offenbar in bestimmten Gehirnarealen verortet ist. Wie die "Süddeutsche Zeitung" meldet, untersuchten die Forscher bei Patienten mit Hirntumoren die Fähigkeit, sich nicht nur als Ich, sondern als Teil eines großen Ganzen zu fühlen.
Die Wissenschaftler fanden heraus, wie sich diese Eigenschaft veränderte, wenn die Tumore entfernt wurden, und glichen dies mit denen durch die Operation verursachten Schäden ab. Demnach können die hinteren Scheitellappen des Großhirns maßgeblich die Spiritualität eines Menschen beeinflussen, so die Forscher.
Bestimmte Verletzungen dieser Region, so der Leiter der Studie, Cosimo Urgesi, verstärkten bei den Patienten das Gefühl der Selbst-Transzendenz und beeinflussen somit die spirituelle und religiöse Haltung eines Menschen, folgern die Forscher. In weiteren Studien soll nun überprüft werden, ob sich durch das vorübergehende Ausschalten der Aktivitäten dieser Hirnregionen bei gesunden Menschen das spirituelle Empfinden beeinflussen lässt.
"Dunkle Wasser mit windschnittigen Wissenschaftsyachten"
Es sind "dunkle Wasser", auf denen die Forscher mit "windschnittigen Wissenschaftsyachten" herum schippern, sieht der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf Erklärungsversuche von Boyer eher skeptisch. Es sei bei der Entstehung der Moral des Menschen niemand dabei gewesen, konstatiert Bereiter-Hahn, deswegen könne man auch in Zukunft nur "mutmaßen". (pro)