Religiöse nicht misstrauischer gegenüber Wissenschaft

Religiöse Menschen bringen der Wissenschaft nicht weniger Vertrauen entgegen als nicht-religiöse. Das fanden Wissenschaftler in einer weltweiten Studie heraus.
Von Jörn Schumacher
Forschung und Wissenschaft

Man könnte annehmen, dass religiöse Menschen der Wissenschaft skeptischer gegenüberstehen als nicht-religiöse. Das Gegenteil ist der Fall. Sich selbst als religiös einschätzende Menschen gaben in einer weltweiten Umfrage ein deutlich höheres Vertrauen in die Wissenschaften an. Das ergab eine Studie mehrerer Forscher um Viktoria Cologna vom „Collegium Helveticum“, ein von der ETH Zürich, der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste getragenes Institut.

In der Studie, die vor kurzem im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde, schreiben die Forscher: „In den letzten Jahren wurde die epistemische Autorität der Wissenschaft infrage gestellt. Das führte zu einem geringen öffentlichen Vertrauen in Wissenschaftler.“ Die Forscher untersuchten dies mit einer Umfrage unter 71.922 Personen aus 68 Ländern. Das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft biete der Gesellschaft viele Vorteile, schreiben die Autoren. Es helfe, fundierte Entscheidungen zum Beispiel zu Gesundheit und Ernährung zu treffen und bilde „die Grundlage für eine evidenzbasierte Politikgestaltung“. Es ermögliche auch die Bewältigung globaler Krisen wie der Covid-19-Pandemie und des Klimawandels. „Gesellschaften mit hohem öffentlichen Vertrauen in die Wissenschaft und Wissenschaftler bewältigten die COVID-19-Pandemie wirksamer (…).“

„29 Prozent sehen keinen Widerspruch zwischen ihrer Religion und Wissenschaft“

„Insgesamt ist das Vertrauen in Wissenschaftler weltweit einigermaßen hoch“, stellten die Forscher fest. Demnach glauben 78 Prozent, dass Wissenschaftler qualifiziert sind, wirkungsvolle Forschung zu betreiben, fünf Prozent glauben, sie seien nicht qualifiziert und 16 Prozent standen in ihrer Meinung diesbezüglich in etwa dazwischen. Es glauben 57 Prozent der Befragten, dass die meisten Wissenschaftler ehrlich sind, nur elf Prozent empfinden sie als unehrlich, und 31 Prozent liegen dazwischen. Das größte Vertrauen sprach man in den Ländern Ägypten, Indien und Nigeria gegenüber Wissenschaftlern aus. Es folgen Australien, Bangladesch und Spanien. Deutschland liegt im Mittelfeld. In Russland gibt es relativ wenig Vertrauen in Wissenschaftler. Der Faktor Bildung stellte dabei den Daten überraschenderweise eine eher kleine Auswirkung auf das Vertrauen in Wissenschaftler dar.

„Viele nehmen an, dass Religiosität mit geringerem Vertrauen in Wissenschaftler verbunden ist, da viele in Ländern des globalen Nordens durchgeführte Studien diesen Zusammenhang festgestellt haben“, heißt es weiter. „Dieser Annahme widerspricht jedoch eine frühere Studie, die ergab, dass nur 29 Prozent der Menschen weltweit glauben, dass die Wissenschaft im Widerspruch zu ihrer Religion steht. Eine andere Studie ergab, dass Religiosität in den USA zwar mit negativen Einstellungen gegenüber der Wissenschaft verbunden ist, dieser Zusammenhang weltweit jedoch inkonsistent ist. Tatsächlich stellten wir fest, dass Religiosität insgesamt positiv mit dem Vertrauen in Wissenschaftler verbunden ist.“

In muslimischen Ländern wie der Türkei, Bangladesch und Malaysia sei das Vertrauen gegenüber Wissenschaft positiv mit Religiosität verbunden, zeigten die Daten. Die Ergebnisse bestätigten den Autoren zufolge frühere Studien des Pew Research Center, welche besagten, dass die meisten muslimischen Teilnehmer keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion wahrnahmen, da ihr heiliger Text, der Koran, viele Prinzipien der Wissenschaft verkündet. Weiter heißt es: „Umgekehrt haben einige Christen den Eindruck, dass die Wissenschaft nicht mit ihrer Religion übereinstimmt, obwohl es zwischen den Ländern deutliche Unterschiede gibt. Unsere Ergebnisse stimmen mit diesen Ergebnissen überein.“

Der Religionswissenschaftler Michael Blume schrieb dazu in einem Kommentar:  „Wie ist das möglich? Werden wir nicht alle seit Jahren auf den feindseligen Dualismus zwischen religiösen Kreationisten der USA und den sogenannten ‚Neuen Atheisten‘ des Westens getrimmt?“ Genau das sei das Problem, so Blume, der Beauftragter der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben ist. „In der Arroganz des linear-säkularen Denkens glauben viele immer noch, dass einzelne, westliche Staaten ‚den Fortschritt‘ verkörpern, dem dann alle anderen Gesellschaften folgen würden.“ Doch die Liste der Länder mit dem durchschnittlich höchsten Vertrauen in Wissenschaftler dieser Studie zeige ein ganz anderes Bild. „Sogar die USA liegen noch vor Deutschland“, so Blume, „das hinter Polen und Peru und knapp vor Georgien und Serbien unterdurchschnittlich abschneidet.“

Blume konstatiert: „Zwar gibt es selbstverständlich auch religiösen Dualismus (aus den USA ‚Fundamentalismus‘) quer durch alle Weltreligionen. Doch nach meiner Beobachtung und Erfahrung begründet sich die hauptsächliche Ablehnung gegen Wissenschaft längst im libertären Individualismus – im Anspruch, die eigene Weltwahrnehmung sowohl gegen religiöse als auch gegen wissenschaftliche Autoritäten durchzusetzen.“

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