In den USA und Brasilien betrieben Protestanten gerade eine „fatale Politik“, findet der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen. In einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung schreibt er, dass sowohl US-Präsident Donald Trump als auch sein brasilianischer Amtskollege Jair Bolsonaro eine Gefahr darstellten. Davon dürfe man sich nicht blenden lassen. Die evangelikale Bewegung sei deutlich vielfältiger.
Diese habe sich über die Jahrhunderte ausdifferenziert. Zu den lutherischen, reformierten und baptistischen Strömungen seien später unter anderem Puritaner, Methodisten oder die Pfingstbewegung hinzugekommen. Deswegen falle es schwer, den Protestantismus unter einem Begriff zusammenzufassen. Mittlerweile gebe es auch Linksevangelikale, die neben der Rettung der Seele auch konkrete Sozialarbeit vor Ort leisten und auf die beängstigende Umweltzerstörung hinweisen würde. Als Beispiel nennt er das Netzwerk „Micah Global“, deren deutscher Ableger „Micha Deutschland“ heißt.
„Engagiert streiten und gut argumentieren“
Claussen sieht die Gefahr eines charismatischen, vom Geist Gottes erfüllten Anführers darin, dass die Versuchung eines „emotionalen, sexuellen oder finanziellen Machtmissbrauchs“ naheliege: „Besonders bedrohlich wird der charismatische Protestantismus, wenn er nach der wirtschaftlichen und politischen Macht greift.“
Er blickt dann nach Deutschland. Auch im Umfeld der AfD gebe es evangelikale Christen. Hier sollten liberale Protestanten es sich nicht einfach machen: „Wer aus einer christlichen Grundhaltung für eine offene Gesellschaft eintritt, muss engagiert streiten, gut argumentieren und nicht zuletzt eine religiöse Alternative vorstellen, nämlich eine ehrliche, aufgeklärte, lebendige Frömmigkeit.“
In Afrika habe die christliche Mission dazu geführt, das Christentum zu „afrikanisieren“, statt die Afrikaner zu „europäisieren“. Beispielhaft nennt er hier Kimbanguisten im Kongo, die Zionskirchen in Südafrika oder die Wohlstandsevangelisten in Nigeria. Die Anhänger dieser Kirchen zeichne oft ihr Wunderglaube aus. Claussen findet das nicht ungewöhnlich für Menschen, die keinen Zugang zu guter Medizin und keine Perspektive auf Sicherheit haben. Der Glaube richte diese Menschen auf.
Protestantismus von unten erst nehmen
„Vor ihrem Gott jedoch können sie sich als Auserwählte verstehen. Zudem bindet ihr Glaube sie zu Gemeinschaften, von denen sie in Notfällen eher Hilfe erwarten können als von einem abwesenden Staat oder westlichen Hilfsorganisationen.“ Sich lediglich über diese Art von Protestantismus zu mokieren, hält Claussen nicht für gerechtfertigt: „Er ist ernst zu nehmen – nicht zuletzt, weil er durch Einwanderer längst in Deutschland angekommen ist.“
In den USA verließen immer mehr junge Menschen ihre evangelikalen Gemeinden. Sie seien dort oft unterdrückt und manipuliert worden. Weil sie sich „aber eine Art von Glauben bewahrt“ haben, bezeichneten sie sich als „Post-Evangelicals“. Sie suchten nach „einer freien, toleranten, sozialen und ökologisch engagierten Frömmigkeit“. Auch in Deutschland verstünden sich viele als Post-Protestanten, „auch wenn ihnen dieser Begriff unbekannt ist“. Deswegen nützten vorschnelle Urteile in Glaubensfragen kaum etwas.
Von: Johannes Blöcher-Weil