„Zwischen Lust und Sünde – Prostitution verbieten?“ lautete das Thema der Sendung. Obwohl die Debatte über ein Prostitutionsverbot an sich schon ausreichend Zündstoff birgt, setzte die Redaktion noch einen drauf und führte den Kirchenterminus der Sünde mit im Titel – einem Thema, über das in der Kirche viel mehr gesprochen werden müsse, wie die Pastorin und ehemalige Berliner Diakonie-Chefin Susanne Kahl-Passoth gleich zu Beginn bemerkte. Sünde bedeute, Schuld auf sich zu laden. So gesehen sei eine Prostituierte erst einmal keine Sünderin. Nun mag sich der ein oder andere bibelfeste Zuschauer über diese Aussage gewundert haben – hier sei nur das Stichwort Ehebruch genannt. Dennoch war Kahl-Passoth sich sicher: Zu Jesu Zeiten sei das Verurteilen von Prostitution zwar „eine Auffassung“ gewesen, dies habe sich aber im Laufe der Geschichte geändert.
Sünde vom Tisch
Damit war das böse Wort Sünde dann gleich wieder vom Tisch und Tacheles widmete sich der Standard-Debatte: Verbot ja oder nein. Nein, fanden neben Kahl-Passoth auch Grünen-Politiker Volker Beck und die Domina Johanna Weber. Ja, forderte Emma-Redakteurin Chantal Louis; unterstützt wurde sie von dem Kriminologen Christian Pfeiffer und der Ex-Prostituierten Nadine Winterstein. Letztere arbeitete viele Jahre im Bordell, stieg 2007 aus und berichtete nun von Frauen aus Osteuropa, die von Zuhältern drangsaliert würden und deshalb oft Angst hätten, nach der Arbeit nach Hause zu gehen. Fast alle Prostituierten hätten psychische Probleme, sie selbst sei wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung behandelt worden.
Dagegen standen die Berichte der Domina und Prostituierten-Lobbyistin Weber. Eine „supergute Erfahrung“ sei ihr erstes Mal als Prostituierte gewesen, bewundert habe sie immer die Macht, die Frauen in dieser Branche über Männer haben könnten. Ihr Beruf sei aber stigmatisiert, sagte sie, wies in Richtung Pfeiffer und Louis, um sich plötzlich ungewohnt opferhaft zu geben: „Ich könnte jetzt fast heulen – warum glaubt man denen?“ So sprach Pfeiffer etwa davon, dass 80 bis 90 Prozent der Prostituierten ausgebeutet würden „ohne, dass die Polizei eine Chance hätte, etwas dagegen zu unternehmen“. Emma-Redakteurin Louis echauffierte sich über das 2002 eingeführte Prostitutionsgesetz, das das Anschaffen zu einer normalen Tätigkeit machen sollte: „Wir suggerieren den Mädchen, das wäre ein super Beruf.“ Weber warf sie vor, nur einen geringen Prozentsatz der Prostituierten zu vertreten. Jene aber, die misshandelt und zum Sex gezwungen würden, hätten keine Stimme.
Grünen-Politiker Beck erklärte, ein Verbot sei auch heute der falsche Weg, stattdessen wolle er die Frauen besser darüber informieren, welche Rechte sie hätten. Bordelle müssten stärker kontrolliert sowie der Opfer- und Zeugenschutz ausgebaut werden. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, zitierte er Jesus. Einen rechten Zusammenhang zum Gesagten hatte das zwar nicht, aber immerhin tat Beck Susanne Kahl-Passoth den Gefallen, die Sünde noch einmal aufs Tapet zu bringen.
„Was ist eigentlich mit den anderen Frauen?“
Es ist vor allem ein Satz der Journalistin Chantal Louis, der bei allem Gesagten in Erinnerung bleiben sollte: „Was ist eigentlich mit den anderen Frauen?“ Geradezu unverschämt erschien das mitleidheischende Mir-kommen-gleich-die Tränen-Gerede der freiwillig Prostituierten Weber, angesichts der vielen Frauen, die tagtäglich auf deutschen Straßen misshandelt und missbraucht werden. Erst in der vergangenen Woche sagte eine 18-jährige Rumänin in Berlin vor Gericht gegen zwei Männer aus, die sie unter einem Vorwand nach Deutschland gelockt haben sollen. Sie hätten ihr die Papiere weggenommen und sie zur Prostitution gezwungen. Liliana B. ist eine der wenigen Opfer von Menschenhändlern, die sich öffentlich gegen ihre Zuhälter stellen. Einer von Tausenden nicht repräsentativen Einzelfällen – aus Sicht von Frauen wie Domina Weber.
Angesichts der breiten Tacheles-Debatte über Verbesserungen in der Gesetzgebung für Bordellbetriebe bleibt aber noch etwas anderes zu fragen: Was ist eigentlich mit den Frauen auf der Straße? Was ist mit jenen, die auf der Hamburger Reeperbahn oder der Berliner Kurfürstenstraße Nacht für Nacht bei Eis und Kälte stehen? Selbst wenn es einem Regierungsapparat gelänge, Regeln zu schaffen, die Frauen in Bordellen schützten – auf der Straße greift keiner dieser Versuche. Die letzten zwölf Jahre unter dem Prostitutionsgesetz haben gezeigt, dass das Herauszerren der Prostitution aus den Dunkelzonen unserer Gesellschaft nicht funktioniert hat. Das Prostitutionsgesetz und der Plan, selbige zu normalisieren, sind gescheitert. Und egal, ob uns das gefällt oder nicht – Politiker, Dominas und ehemalige Diakoniechefinnen sollten aufhören, an dieser Realität vorbeizudiskutieren. (pro)