PRO: Frau Diehl, was ist Populismus?
Paula Diehl: Populismus ist eine bestimmte Art, Politik zu machen, die aber einige ideologische Kernpunkte mit sich bringt. Der Populismus ist zentriert auf Volkssouveränität. Das bedeutet: Die Demokratie ist ihm wichtig, deswegen muss das Volk souverän sein, also die Macht haben. Dieses Element ist innerhalb der Demokratie sehr gut verortbar. Aber darüber hinaus teilt Populismus die Gesellschaft in zwei Machtlager ein: die Eliten, die die Macht haben, und das Volk, das die Macht nicht hat. Schlimmer noch: Populismus sagt, dass die Eliten ihr Versprechen verraten hätten, das Volk zu vertreten, um sich selbst zu begünstigen. Politische Institutionen wie etablierte Parteien oder der Staatsapparat sind für den Populismus immer suspekt, weil diese aus seiner Sicht nicht den Willen des Volkes wiedergeben. Das gleiche gilt auch für die etablierten Medien, denen der Populismus vorwirft, den Volkswillen zu verzerren.
Ist Populismus immer schlecht?
Populismus kann eine wichtige Funktion erfüllen, nämlich mehr Demokratie zu verlangen. Solange die damit verbundene politische Ideologie noch im Rahmen der Demokratie funktioniert, kann er ein gutes Instrument sein. Denn Populismus polarisiert sehr stark und vereinfacht die Diskurse so weit, dass man den Eindruck bekommt, man müsse nicht weiter diskutieren, weil die Lösung doch so einfach ist. Der Vorteil für die Demokratie liegt darin, dass man mit Populismus sehr schnell Menschen mobilisieren kann. Auf der anderen Seite hat der Populismus eine spalterische Wirkung: Die Probleme werden immer schwarz-weiß dargestellt, Grauzonen ignoriert er. Der Populismus taugt eher nicht dazu, gemeinsame Lösungen zu finden.
Populismus kommt vom lateinischen Wort „populus“, „Volk“, die Endung „-ismus“ deutet auf eine starke Betonung des Volkes hin – im Gegensatz zu einer herrschenden Kaste. Stimmt das?
An dem Punkt ist der Populismus mit der Demokratie sehr kompatibel, weil er verlangt, dass die Demokratie wieder hergestellt wird. Allerdings weiß man bei Populismus nie: Wer gehört denn zum Volk? Deswegen spricht man in der Forschung auch von einer „dünnen Ideologie“. Eine starke Ideologie zeigt wie auf einer großen Landkarte, wo es langgeht. Dafür reicht die Erzählung „das Volk gegen die Eliten“ nicht aus. Deswegen haben wir es mit vielen unterschiedlichen Populismen zu tun, die das betrogene Volk jeweils anders definieren.
Wie denn?
Der Linkspopulismus versteht unter dem Volk diejenigen, die aus dem kapitalistischen System ausgeschlossen sind und ökonomisch und sozial benachteiligt werden. Der Rechtspopulismus schöpft seine Ideologie aus der extremen Rechten – nicht aus der konservativen Rechten. Er betrachtet das Volk als homogenen Block, der sich nicht mischen darf, weil jede fremde Komponente diesen „Volkskörper“, wie ihn faschistische Bewegungen nennen, zerstören könnte. Ihn muss man vor Invasoren schützen. Im Zentrum steht ein antidemokratischer Kern: Das Volk ist exklusiv, zwischen Menschen bestehen Hierarchien. Das steht im Gegensatz zu dem Versprechen von Demokratie und universal gültigen Menschenrechten sowie zur Gleichheit zwischen den Menschen innerhalb eines politischen Verbunds.
Sie haben mal gesagt: „Populismus ist ein bisschen wie das Salz in der Suppe. Wenn Sie gar kein Salz haben, haben Sie keine Mobilisierung und Politisierung.“ Aber man solle nicht zu viel nehmen, sonst könne man die Suppe nicht mehr essen. Bringt ein bisschen Populismus also die richtige Würze in die Debatte?
Ja. Populismus ist definitiv immer in der Demokratie mit dabei. In Krisenzeiten umso stärker: Sobald die Repräsentation nicht mehr einwandfrei funktioniert, kommen Zweifel auf, ob das Volk angemessen vertreten wird. Denn Populismus erzählt die Geschichte des betrogenen Volkes, das mithilfe einer führenden Person die Macht zurückerobern soll. Die Geschichte kann intensiver im Vordergrund stehen oder auch etwas in den Hintergrund geraten. Die Kluft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist immer da, weil der Wille des Volkes nie eins zu eins durchgesetzt werden kann. Ich muss immer damit leben, dass eine politische Entscheidung, selbst wenn sie in meinem Sinne gedacht wird, nicht deckungsgleich ist mit meiner Meinung. Deswegen gibt es immer Platz für Populismus.
Ist Populismus in den vergangenen Jahren stärker geworden?
Seit dem Jahr 2000 gibt es weltweit mehr Populismus. Seit etwa 2010 ist der Rechtspopulismus deutlich erstarkt. In Deutschland war es ein bisschen später als in Österreich, wo die FPÖ schon Ende der 1990er Erfolge erzielte.
Woran lag das?
Das hat mit der Krise der Repräsentation zu tun: Die Bevölkerung hat demnach den Eindruck, dass ihre Anliegen gar nicht mehr gesehen werden. Politikwissenschaftliche Studien haben in Deutschland gefragt, ob sich die Bevölkerung durch die Parteien repräsentiert fühlt. Tatsächlich verneint ein Teil der Befragten das. Dazu kommt eine Krise in der Verteilung: Vor allem seit den 2000er Jahren geht die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander, ganz zu schweigen von all den anderen Krisen – Klimakrise, Migrationsproblemen oder Ukraine-Krieg – und natürlich auch dem Aufkommen der sozialen Medien. Seit fünf bis zehn Jahren beobachten wir je nach Land eine Zunahme von rechtsradikalen und antidemokratischen Denkweisen, die innerhalb der demokratischen Öffentlichkeit zirkulieren und teilweise auch von etablierten Parteien übernommen wurden.
Was kann man gegen schädlichen Populismus tun?
Man muss sich immer wieder fragen, wie weit Populismus gehen kann. Als Bürgerinnen und Bürger haben wir das Recht, nach einer Erklärung der Regierenden zu verlangen, die nicht emotionalisierend, überpointiert oder witzig erscheint. Sondern nach einer Erklärung, die nüchtern einen Sachverhalt darstellt und Handlungsweisen erklärt. Populismus ist nicht per se schlecht. Er kann auch Probleme aufdecken. Politikerinnen und Politiker müssen viel stärker als diejenigen auftreten, die konkrete Handlungswege aufzeigen, statt nur die polarisierende Position darzustellen. Zudem ist es wichtig, dass man selbstreflexiv und kritisch bleibt, um antidemokratische rechtsradikale Positionen nicht zu übernehmen.
Welche Rolle spielen die Medien beim Aufstieg des Populismus?
Populisten nutzen schon immer die Medien ihrer Zeit. Beim ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump sind das die sozialen Medien und Reality Shows. Sie folgen allgemeinen Regeln der Aufmerksamkeitslogik der Massenmedien, die bei der Auswahl von Nachrichten oft sehr stark verkürzen. Sie wollen Komplexität reduzieren, emotionalisieren, dramatisieren. Populismus und Massenmedien haben eine starke Kompatibilität. Diejenigen, die nicht populistisch agieren, sind dadurch immer im Nachteil. Populisten bekommen immer viel Aufmerksamkeit, egal ob sie rechts oder links sind. Das ist der Fall bei Trump so wie bei Beppe Grillo, dem Chef der Fünf-Sterne-Partei in Italien, der sich immer geweigert hat, den etablierten Medien Interviews zu geben – aber gleichzeitig am häufigsten in diesen Medien erschienen ist.
Frau Diehl, vielen Dank für das Gespräch.
Paula Diehl ist Professorin für Politische Theorie, Ideengeschichte und Politische Kultur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo sie zudem Direktorin des Internationalen Netzwerks für Populismusforschung ist. Seit 2011 forscht sie zum Thema Populismus.
Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 4/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.