In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli verließ ein Flugzeug mit 69 Afghanen Deutschland. Es landete um 8.40 Uhr Ortszeit in Kabul. Darin saß auch ein konvertierter Christ, dessen Name nicht genannt werden soll. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, nannte ihn in einer Predigt am 8. Juli Ahrun.
Demnach lebte Ahrun bereits seit acht Jahren in Deutschland, bemühte sich darum, die Sprache zu lernen, integrierte sich und war bekennender Christ. Trotzdem musste er gehen. Im Abschiebegefängnis habe er bereits versucht, sich das Leben zu nehmen. Am 4. Juli meldete er sich laut Bedford-Strohm aus Afghanistan. Er suche Wege, zurückzukehren. Seine Verwandten seien alle tot, bei Kämpfen umgekommen. Am Mittwochmittag wurde bekannt, dass sich ein junger Mann nach seiner Abschiebung in Kabul das Leben genommen hat. Er war 23 Jahre alt. Die Vermutung lag zunächst nahe, dass es sich bei diesem Mann um Ahrun handelt. Offenbar ist das nicht der Fall. Die Evangelische Kirche hat das bisher weder bestätigt noch dementiert. An der Sachlage ändert es freilich wenig: Einer der Abgeschobenen ist tot. Ein weiterer, Ahrun, war bereits im Vorfeld so verzweifelt, dass er sich das Leben nehmen wollte.
Ein Jahr zuvor hatte sich nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt, wo Ahrun landete, ein schwerer Anschlag auf die deutsche Botschaft ereignet. Eine Autobombe explodierte, Dutzende starben, Hunderte wurden verletzt. Die Täter waren wohl radikale Islamisten. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière stoppte daraufhin geplante Abschiebeflüge nach Afghanistan. Wenige Monate später hoben die Flieger wieder ab – obwohl sich weiterhin und bis heute Anschläge ereignen, etwa im Januar auf ein Hotel in Kabul. Die Sicherheitslage soll sich laut jüngsten Berichten der Bundesregierung sogar nochmals verschärft haben. Ahruns echter Name blieb auch deshalb geheim, weil es für Christen lebensgefährlich sein kann, wenn ihr Glaube bekannt wird.
Ein Bruder, kein Gefährder
Seit die Bundesregierung wieder Menschen nach Afghanistan abschiebt, gelten eigentlich strenge Regeln: Ausreisen müssen nur Straftäter, Gefährder oder Menschen, die ihre Identität verschleiern. Wie verschiedene Flüchtlingsorganisationen gegenüber pro bestätigten sind diese Kriterien allerdings seit Erscheinen des neuesten Lageberichts Afghanistan vor einem Monat faktisch aufgelöst. Und das, obwohl dieser die Situation im Land keinesfalls positiver bewertet. Dennoch: Im Abschiebeflug der besagten 69 saßen wohl auch Asylsuchende, die sich nichts zu schulden haben kommen lassen, außer, dass sie in Deutschland eben nicht asylberechtigt waren. Der Flug war zudem der bisher größte, was die Personenzahl angeht. Ahrun stand laut Bedford-Strohm in engem Kontakt mit einer Kirche im oberpfälzischen Weiden. Für die Gemeinde dort ist er ein „Bruder in Christus“, kein gefährlicher Migrant.
Horst Seehofer hat am Dienstag, sechs Tage nach der Abschiebung Ahruns, in Berlin seinen Masterplan Migration vorgestellt. Im Zuge dessen lobte er die strengeren Rückführmechanismen der Regierung und scherzte über den jüngsten Abschiebeflug: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“ Seehofer erweckte nicht nur den Eindruck, sich über den erheblicheren Umfang des Fluges zu freuen. Er schien es auch nach der wochenlangen Asyldebatte mit Kanzlerin Merkel als persönlichen Sieg zu verbuchen.
Wo bleibt die Empathie?
Ein Minister, der über menschliche Schicksale wie das von Ahrun bei einer Pressekonferenz nebenbei kleine Scherzchen macht und sich darüber hinaus damit brüstet, diskreditiert sich selbst. Er sollte sich schämen. Dass Ahrun bereits in Deutschland einen Suizidversuch unternommen hatte, muss er gewusst haben. Kein Asylsuchender sollte in ein Krisengebiet wie Afghanistan abgeschoben werden. Erst recht aber niemand, der dort aufgrund seiner Überzeugung berechtigte Todesangst erleiden muss.
Seehofer betonte einst im Zuge der Debatte darüber, ob der Islam nach Deutschland gehört, dass das Christentum dieses Land geprägt habe. Dazu gehörten der freie Sonntag, kirchliche Feiertage, Ostern, Pfingsten und Weihnachten. Das ist sicher alles richtig. Aber es gehören auch Nächstenliebe und Empathie mit den Schwächsten dazu. Der christliche Kompass muss immer auf diese beiden Elemente weisen, sonst ist er falsch ausgerichtet. Seehofers Kompassnadel findet das nicht mehr, was immer Selbstverpflichtung der Unionsparteien war, das C nämlich. Stattdessen ist er auf das I eingenordet. Es steht für Ich.
Von Anna Lutz