Am jenem Abend des 2. November war es noch einmal unwahrscheinlich warm in Wien. Sonnenschein und bis zu 20 Grad Plus. Ein idealer Anlass, um am Tag vor dem Beginn des zweiten Lockdowns in Österreich inklusive Sperre der Gastronomie ein letztes Mal mit Freunden in der Innenstadt etwas essen oder trinken zu gehen und das städtische Leben zu genießen. Das sogenannte Bermudadreieck mitten im ältesten Teil der Stadt – einst auf den Resten des römischen Vindobona errichtet – ist eigentlich eine beliebte Partymeile. Zudem auch ein Ort des jüdischen Lebens oder besser gesagt des Rests von jüdischem Leben, der Wien nach dem Wahn des Nationalsozialismus erhalten geblieben ist: Hier befindet sich nämlich der Stadttempel, die einzige Synagoge Wiens, die am 9. November 1938 die Reichspogromnacht wenigstens in ihrer äußeren Struktur überlebt hat.
Doch just in jenem Viertel geschieht am 2. November gegen 20 Uhr das Unfassbare: ein Terroranschlag. Ein junger Wiener mit migrantischem Hintergrund, kaum dem Teenageralter entronnen – die Eltern gut integriert – hat sich dazu entschlossen, zu morden. Vier Menschen sterben, 23 werden teils schwer verletzt. Dass nicht noch Schlimmeres passiert ist, ist der Wiener Polizei zu verdanken, die den Täter nach bloß neun Minuten des Mordens erschießen wird. Und doch ist es der Grauen des Terrors, der – teils auf unmoralische Weise (eine Boulevardzeitung hat die Mordvideos gezeigt und laut der in Österreich prominenten Fernsehmoderatorin Corinna Milborn „wie ein Fußballspiel kommentiert“) – über Medien vermittelt, die Stadt und auch das ganze Land in Atem halten wird.
Nach zahlreichen Anschlägen in Frankreich, zuletzt etwa der grausamen Ermordung eines Lehrers bei Paris oder der Messerangriff in einer Kirche, und etwa dem Anschlag auf Weihnachtsmarkt in Berlin 2016, hat es also auch Österreich erwischt. Ein Land, in dem man sich sonst so sicher wähnte, dass der Bundespräsident mit allen anderen wie selbstverständlich U-Bahn fährt. Ein Land, in dem man sich so sicher wähnte, dass der Begriff „Insel der Seligen“, wie er angeblich von Papst Paul VI. stammt, in Hinblick auf sozialen Frieden und Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg zum Inbegriff des Österreichertums wurde. Ein Terrorangriff ist immer eine Zäsur; aber wenn man der Meinung ist, dass so etwas in Österreich doch nicht passieren kann – nicht nur im Nachhinein zugegebenermaßen eine naive Meinung –, umso mehr.
Hätte sich der Anschlag verhindern lassen?
Wie also damit umgehen? Diese Frage lässt sich zunächst auf der sachpolitischen Ebene relativ leicht beantworten. Faktum ist nämlich leider, dass der Terroranschlag von Wien wohl hätte verhindern werden können, weil Österreichs Polizei zwar schlagkräftige Spezialeinheiten (übrigens eine Folge aus der polizeilichen Hilflosigkeit bei Terroranschlägen in den 1970ern), dafür aber einen umso schlechter aufgestellten Inlandsnachrichtendienst besitzt, der stichhaltige Hinweise zum Attentäter, etwa einen versuchten Munitionskauf, nicht weiterverfolgt hat. Es ist also geboten, die Arbeitsweise der Strafverfolgungsbehörden zu verbessern. Faktum ist auch, dass der Täter bereits 2018 nach Syrien ausreisen wollte, um sich dem Dschihad anzuschließen; er hat es nur bis in die Türkei geschafft, wo ihn die Behörden verhafteten und nach Österreich überstellten. Schließlich verurteite ihn ein österreichisches Gericht zu 22 Monaten Haft. Er kam unter der Auflage, an einem Deradikalisierungsprogramm teilzunehmen und Bewährungshilfe in Anspruch zu nehmen, nach zwei Dritteln der Haft frei.
Die ihm aufgelegten Sozialstunden hat er brav absolviert, sich vor seinen Bewährungshelfern geläutert gezeigt – bis wenige Tage vor dem Attentat. Es ist also geboten, die Praxis der Resozialisierung und vor allem jene der Deradikalisierungsarbeit zu untersuchen und unter Einbeziehung psychologischer Forschungsergebnisse möglichst zu verbessern. Nicht geboten ist es hingegen, da wo Behörden und Resozialisierung versagt haben, in einem Schnellschuss strengere Gesetze zu beschließen, wie es jetzt in Österreich auch geschieht. Wenn auch da und dort gesetzliche Nachschärfungen sinnvoll sein können, ist doch jedes Gesetz immer nur so gut wie die staatliche Exekutive, die es umsetzt. Und es war eben die Sicherheitsverwaltung des Landes, die im Vorfeld des Terrors versagt hat – nicht die Terrorgesetze! Nach denen hätte man den Attentäter nach dem versuchten Munitionskauf wieder verurteilen können.
Die offene Gesellschaft will vor ihren Feinden verteidigt werden
Und zweitens lauert hier vor allem aber ein grundsätzliches Problem, womit wir uns von der sachpolitischen auf die philosophische Ebene begeben: Der Anschlag auf Wien war – wie so oft in Europa – ein Anschlag auf die offene und liberale Gesellschaft. Wenn diese Gesellschaft nun vor allem mit immer rigoroseren Terrorgesetzen darauf reagiert, läuft sie Gefahr, scheibchenweise ihre eigene Liberalität zu verlieren. Ein Prozess, der schrittweise verläuft, an dessen Ende im schlechtesten Fall ein repressives Regime wie Orbáns Ungarn oder Erdoğans Türkei stehen könnte.
Die „offene Gesellschaft und ihre Feinde“ lautet ein Buchtitel des österreichischen Philosophen Karl Popper, der im Nachkriegsdeutschland als Bonmot eine große Rolle gespielt hat. Einer der Kerngedanken darin befasst sich mit dem sogenannten Toleranz-Paradoxon: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen (…), dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Intoleranten Kulturen mit naiver Toleranz zu begegnen, führt in eine Sackgasse. Ist die polizeiliche und strafrechtliche Keule also das erste Mittel der Wahl, um radikalen Islamismus zu bekämpfen? Mitnichten! Popper betont nämlich auch: „Damit möchte ich nicht sagen, dass wir z.B. intolerante Philosophien auf jeden Fall gewaltsam unterdrücken sollten; solange wir ihnen durch rationale Argumente beikommen können und solange wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre ihre Unterdrückung sicher höchst unvernünftig.“
Tatsächlich ist der Umgang mit islamischem Extremismus nicht nur aus philosophischer Sicht eine Gratwanderung – in der Praxis kommen noch einmal politische, juristische und soziale Schwierigkeiten sowie ein durch Boulevardzeitungen, extreme Parteien und nicht zuletzt Social Media populistisch vergifteter Diskurs dazu. Das Ziel einer solchen Gratwanderung sollte aber klar sein: Die offene Gesellschaft, die uns als Europäer so sehr auszeichnet, zu schützen, zu erhalten und zu stärken. Dazu können auch aufgeklärte Christinnen und Christen ihren Beitrag leisten, indem sie sich im Dialog mit Glaubensgeschwistern gegen allzu einfache Antworten auf die Terrorgefahr positionieren oder durch Beziehungen zu Migranten ihnen dabei helfen, sich in dieser offenen Gesellschaft zurechtzufinden, sie vielleicht sogar schätzen zu lernen.
Dazu gehört auch die Bereitschaft zu der Selbsterkenntnis: Wir alle haben unsere Vorurteile, unsere unüberlegten Meinungen und sind – schlimmer noch –, wie es Paulus im Römerbrief eindrücklich betont, allesamt Sünder. Es bleibt uns also nur eines: Offen miteinander zu reden, Argumente kritisch zu prüfen (nicht zuletzt auch diesen Kommentar!), dabei aber Demut und Empathie beweisen und als Staatsbürger, in Arbeit und Freizeit sowie als Christen korrigierbar zu bleiben. Das ist nämlich im Sprechen über Extremismus genauso sinnvoll wie überall sonst.