Mehr als Bananen

Die allermeisten Menschen in unserem Land verbinden mit der deutschen Teilung und Wiedervereinigung eine eigene Geschichte. Es ist gut, wenn wir sie uns erzählen. Denn das erinnert daran, dass Einheit, Freiheit und Frieden nicht selbstverständlich sind. Ein persönlicher Blick auf 30 Jahre Deutsche Einheit von Jonathan Steinert
Von PRO
Bananen sind für DDR-Bürger zum Symbol des Wohlstands geworden, weil es sie – wie auch andere Südfrüchte – nur sehr selten zu kaufen gab

Eine Banane begrüßte mich vor der Haustür. Sie lag in einem großen Pappkarton. Es sollte eine Überraschung sein, aber ich konnte nichts mit ihr anfangen. Schließlich hatte ich mich im Auto gerade übergeben müssen. Und ich war erst vier Jahre alt, zu jung, um das Augenzwinkern dahinter zu verstehen. Denn Bananen gab es bei uns so gut wie nie. Bei uns, das heißt, in einem kleinen Dorf in der DDR. Noch Jahre später machten wir als Jugendliche Sprüche darüber, wenn eine Menschenschlange irgendwo anstand: „Gibt es Bananen?“ Deshalb wollte mir der Freund unserer Familie mit der gelben Frucht eine Freude machen, als wir ihn zu Silvester 1989 in Kaiserslautern besuchten. Die Idee war wirklich gut, hat bei mir aber eben leider nicht zur erhofften Reaktion geführt.

Dieser besondere Empfang ist meine erste bewusste Erinnerung an „den Westen“. In den Tagen zuvor besuchten wir – meine Eltern und ich – meinen Onkel in der Nähe von Pforzheim. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1989 hatte unsere Reise begonnen. Und es war wohl das größte Geschenk, das es in jenem Jahr gab – die innerdeutsche Grenze war offen. Für meine Familie bedeutete das schon zu diesem Zeitpunkt: Wiedervereinigung. Denn mein Onkel war mit seiner Frau und den zwei Kindern ein halbes Jahr vorher aus der DDR ausgereist. Dass wir sie zu Weihnachten schon in ihrer neuen Wohnung besuchen und zu anderen Westbekanntschaften weiterreisen könnten, war wenige Monate zuvor unvorstellbar gewesen.

Raus aus diesem Land

Schon in den 70er Jahren denken mein Onkel Dietmar und seine Frau Andrea darüber nach, die DDR zu verlassen. Die politische Enge, die allgegenwärtige sozialistische Ideologie, das Wettern gegen den Westen und die schöngefärbten Nachrichten im Staatsfernsehen sind ihnen zuwider. Im Elternhaus meines Onkels lief West-Radio, meist Bayerischer Rundfunk. Zu Hause herrschte die Einstellung: Kommunisten sind Verbrecher. In Tante Andreas Familie, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Posen vertrieben worden war, hieß es: „Wir sind nicht weit genug in den Westen geflüchtet.“ Doch den Gedanken an die Ausreise verwerfen Dietmar und Andrea zunächst wieder. Auch aus Sorge, ihre Familien nicht wiedersehen zu dürfen.

Doch der Gedanke kommt zurück, bei beiden unabhängig voneinander und immer drängender. Vor allem als die beiden Kinder ständig krank sind und Atembeschwerden haben. Denn die Luft ist durch den Ruß aus den Schornsteinen der nahegelegenen Fabrik derart verschmutzt, dass sich der Kohlestaub wie ein dünner, schwarzer Schleier über Brückengeländer, Fensterbänke, Pflanzen und den Schnee legt. Es ist fast nicht möglich, die Wohnung zu lüften. „Wir haben das Fenster aufgemacht, geprüft, ob die Luft drin oder draußen besser ist, und es dann meist schnell wieder geschlossen“, erzählt Andrea. 1986 stellen sie ganz offiziell einen Ausreiseantrag. Sie begründen ihn mit den gesundheitlichen Problemen der Kinder, aber eigentlich steht dahinter ihre generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System. Mit dem können und wollen sie sich nicht arrangieren. Als Kantoren genießen sie eine gewisse Freiheit unter dem Schutz der Kirche. „Hätte ich einen anderen Beruf, wäre ich Ingenieur in einem Betrieb gewesen, hätten wir den Antrag sicher nicht gestellt“, sagt Dietmar. Er weiß: Wer in der DDR etwas werden will, kann es sich nicht leisten, dem Staat gegenüber aufmüpfig zu werden.

Nach der Antragstellung müssen Dietmar und Andrea beim „Rat des Kreises“, in etwa vergleichbar mit dem bundesdeutschen Landratsamt, vorstellig werden und ihr Anliegen begründen. Ihr wichtigstes Ziel: Gemeinsam wieder aus dem Büro herauszukommen. Wenn der Parteifunktionär auf der anderen Seite des Schreibtisches zum Telefonhörer greifen sollte, würden sie einen der beiden abführen. Andrea, die fünfjährige Tochter auf dem Schoß, legt ihrem Mann während des Gesprächs immer wieder die Hand aufs Bein, um ihn zu bremsen, wenn sich sein Unmut gegenüber dem Staat zu entladen droht. Wann ihr Antrag bearbeitet würde, ob überhaupt und mit welchem Ergebnis, ist völlig offen. Anfangs schreibt Dietmar jede Woche eine Karte an den „Rat des Kreises“, um an den Antrag zu erinnern. Das lässt er schließlich bleiben, als sein Pfarrer deswegen einbestellt wird. Auch das weiße Schleifchen, das er wie andere Ausreisewillige an die Antenne seines olympiablauen Skodas gebunden hat, entfernt er wieder, nachdem ihn die Polizei deshalb auf die Wache zitierte. Die Familien der beiden sind wenig begeistert von den Plänen, vor allem Andrea bekommt das von einigen ihrer Geschwister deutlich zu hören. Auch Dietmars Vater mahnt: „Dort drüben wartet niemand auf euch.“ Doch für die beiden ist der Weg klar: Sie wissen, dass es für sie richtig ist.

Reise ohne Rückfahrt

Drei Jahre warten sie auf einen Bescheid. Von ihrem Pfarrer bekommen sie schließlich einen Hinweis, dass es bald losgehen könnte, wenig später ist es offiziell. Sie reduzieren ihren Haushalt, verschenken und verkaufen Sachen. Dietmar lässt Kisten beim Schreiner anfertigen für die Dinge, die eine Spedition nachschicken soll. Umzugskartons hätten es auch getan, aber die gibt es nicht. Sie sind guter Dinge und haben keine Zweifel, dass sie ihre Eltern und Geschwister wiedersehen würden. Nicht alle aus ihrer Familie teilen diese Zuversicht. „Wir hatten da eine große Hoffnung“, sagt Dietmar heute rückblickend. „Es lag etwas in der Luft. So viele Menschen haben das Land verlassen, es war greifbar, dass es so nicht weitergehen konnte.“

Zwei Tage vor der Ausreise stirbt Andreas Schwester. Sie wagt nicht, die Behörden um Aufschub der Ausreise zu bitten, um diese nicht zu gefährden. An der Beerdigung kann sie daher nicht teilnehmen. Am 17. Juni, dem Nationalfeiertag der Bundesrepublik, dem Tag, an dem es 1953 den ersten größeren Volksaufstand in der DDR gegeben hatte, ist es soweit. Dietmars älterer Bruder fährt die Familie nach Leipzig zum Bahnhof, bepackt mit Koffern und Reisetasche, der elfjährige Sohn und die siebenjährige Tochter haben je einen Rucksack dabei. „Als würden wir drei Wochen in den Urlaub fahren“, sagt Dietmar. Die Tochter lassen sie auch in diesem Glauben, sie soll erst hinter der Grenze erfahren, dass es keine Rückfahrt gibt.

Am Grenzübergang Bebra stoppt der Zug. Drin ist es totenstill. Draußen sind die Stiefel von Soldaten zu hören, die am Gleis entlangstapfen. Hunde suchen unter den Waggons nach blinden Passagieren. Einer wird abgeführt. Als der Zug nach der Kontrolle der Dokumente schließlich über die Grenze rollt, bricht Andrea in Tränen aus. Die Anspannung entlädt sich. Bei einem Zwischenhalt in Kassel rufen sie ihre Familien an: Wir sind drüben!

Neustart

Zunächst geht es für sie weiter ins Erstaufnahmelager nach Gießen. Am Eingang erhalten sie Beutel mit Wurst, Brot und Süßigkeiten – und Bettwäsche. Es ist so voll, dass sie zwei Doppelstockbetten auf dem Flur beziehen. „Es war unglaublich: Warum kümmert sich ein Land um uns, zu dem wir nicht gehören?“, sagt Dietmar. Christen einer Gießener Freikirche laden in der Unterkunft für den nächsten Tag zum Gottesdienst in ihre Gemeinde ein. Dietmar und Andrea folgen dieser Einladung mit den Kindern. Nach dem Gottesdienst gibt es einen Imbiss in der „Cafeteria“ – ein Wort, das sie nur von einem früheren Besuch im Westen kennen.

Sie wissen, dass es hart wird, im neuen Land Fuß zu fassen. Aber sie wollen nicht zurückschauen. Die Reise geht weiter nach Süden über Rastatt nach Kressbronn an den Bodensee. Dort lebt die Familie für vier Monate in einer Flüchtlingsunterkunft, die vorher einmal ein Kinderheim war. Zu viert in einem Zimmer mit 15 Quadratmetern. Betten und Schränke müssen sie selbst aufstellen. Die Gemeinschaftsküche teilen sie sich mit zehn anderen Familien auf dem Flur. Andrea und Dietmar erfahren über den Kantor des Ortes von einer Stelle, die für ein Kantoren­ehepaar ausgeschrieben ist. Sie bewerben sich als einzige – und werden genommen.

Am 1. November 1989 ziehen sie nach Niefern-Öschelbronn bei Pforzheim. Dort sehen sie, wie gut eine Woche später die Mauer fällt. Wie so viele, mit Tränen in den Augen. Fünf Wochen später, am Zweiten Weihnachtsfeiertag, bekommen sie Besuch aus der Heimat.

Das Wunder weitererzählen

Außer an die Banane kann ich mich an diesen ersten West-Besuch nicht erinnern. Als ich im Sommer 2020 wieder einmal bei ihnen war, fragte ich Dietmar und Andrea, wie sie drei Jahrzehnte später über die Wiedervereinigung denken. „Was hätte denn Besseres geschehen können?“, sagten sie. Ihnen ist bewusst, dass es für manche Menschen im Osten nach dem Ende der DDR auch sehr schwierig war, etwa wenn sie ihre Arbeit verloren hatten. Aber sie wünschen sich manchmal etwas mehr Dankbarkeit dafür, dass sich die Lebensbedingungen insgesamt doch deutlich verbessert haben. „Ich bin manchmal erstaunt, dass offenbar einige DDR-Bürger gedacht haben, im Westen geht es automatisch steil nach oben“, sagte mein Onkel. „Aber wir haben hier von vorn angefangen. Hier muss man genauso lernen und arbeiten und sich ein Leben aufbauen.“ Er vermutet, dass viele Menschen das nicht im Blick hatten, die 1989 riefen: „Wir sind ein Volk“. Sein Fazit: Freiheit und Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Sie erfordern persönlichen Einsatz.

Ich selbst habe Deutschland nur als geeintes Land erlebt. Als Demokratie, als Rechtsstaat mit freiheitlichen Bürgerrechten. Darüber hinaus als ein Land mit höchstem Lebensstandard, als eines, das gute Beziehungen zu seinen Nachbarn pflegt und international nicht den schlechtesten Ruf hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Ein Jubiläum wie der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung erinnert daran, dass das nicht immer so war und dass es keineswegs selbstverständlich ist, was meine Generation als selbstverständlich kennengelernt hat. Dass Menschenhass, Ideologie und Größenwahn vorher zu einer weltweiten Katastrophe führten, auf die die Teilung erst folgte, deren friedlicher Überwindung wir dieses Jahr gedenken.

Die Bibel überliefert einen Hymnus, den Mose kurz vor seinem Tod dichtete. Darin ermahnt er das Volk der Israeliten: „Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. Frage deinen Vater, der wird dir’s verkünden, deine Ältesten, die werden dir’s sagen.“ (5. Mose 32,7). Daran haben sich die Menschen vor tausenden Jahren offenbar gehalten, denn später greifen Psalmbeter das auf: „Wir haben davon gehört, es ist uns bekannt. Schon unsere Eltern haben es weitererzählt. Wir halten es nicht geheim vor unseren Kindern. Wir erzählen davon der nächsten Generation: vom Ruhm des Herrn und seiner Macht, von seinen Wundern, die er getan hat.“ (Psalm 78,3–4). Die Wiedervereinigung unseres Landes – die ja nicht nur ein deutsches Ereignis war, sondern weltpolitische Bedeutung hatte – und die Art und Weise, wie sie verlaufen ist – friedlich – ist in meinen Augen auch ein Wunder. Diese biblische Mahnung sollten wir heute genauso ernst nehmen. Denn mit der Einheit ist uns weit mehr geschenkt als nur Bananen.

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