Mark Galli ist einer, der die evangelikale Szene in den Vereinigten Staaten kennt. 20 Jahre lang war er für das evangelikale Magazin Christianity Today tätig, die letzten sieben als Chefredakteur. Nach eigenen Angaben erreicht das Magazin monatlich 4,3 Millionen Menschen online, eine halbe Million lesen die Printausgabe. Gegründet hat es 1956 der Evangelist Billy Graham. Bevor Galli in den Journalismus ging, war er Pastor, studiert hat er am evangelikalen Fuller Theological Seminary in Los Angeles. Seit Januar ist er im Ruhestand – „nicht wegen des Editorials“, betont er gleich zu Beginn des Gesprächs mit pro und lacht dabei. Der Ruhestand sei schon länger im Voraus geplant gewesen, schiebt der 68-Jährige hinterher.
Bei „dem Editorial“ handelt es sich um einen Leitartikel, den Galli im Dezember 2019 auf der Website von Christianity Today veröffentlichte. Darin unterstützte er das Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump wegen Machtmissbrauchs. „Dass er aus seinem Amt entfernt werden sollte, ist, so glauben wir, keine Frage von parteiischer Loyalität, sondern der Loyalität gegenüber dem Urheber der Zehn Gebote“, schrieb Galli. „Bedenkt, wie eure Rechtfertigung Mr. Trumps euer Zeugnis von eurem Herrn und Erlöser beeinflusst“, ermahnte er die evangelikalen Unterstützer des Präsidenten, und fragte, ob Christen ernsthaft Abtreibung als das größte, nicht zu tolerierende Übel ansehen und gleichzeitig den „gebeugten und gebrochenen Charakter des Anführers der Nation“ herunterspielen könnten.
Der Artikel war ein Paukenschlag. An besonders erfolgreichen Tagen sind drei- bis viertausend Leser gleichzeitig auf der Nachrichtenwebsite, sagt Galli. Doch nachdem dieser Text online ging, brach die Seite zusammen: Rund 15.000 Nutzer wollten den Artikel gleichzeitig lesen, berichtet Galli. Säkulare Medien in den USA berichteten über den Artikel, auch deutsche Medien wie Zeit Online oder Deutschlandfunk. Fünf Monate später stehen unter dem Beitrag auf Facebook über 42.000 Kommentare. Trump wurde mittlerweile freigesprochen.
Galli hatte damit gerechnet, dass sein Text in der evangelikalen Szene Kontroversen auslösen würde, schließlich haben 81 Prozent der Evangelikalen Trump gewählt, aber dass er eine solche Aufmerksamkeit erregen könnte, hätte er nicht gedacht. Natürlich habe es auch negative Reaktionen gegeben, sagt er. Scharf angegriffen wurde Galli etwa von Franklin Graham, dem Sohn des Gründers: Christianity Today sei von den Linken für ihre politische Agenda benutzt worden; es sei unbegreiflich, wie das Magazin sich bei dieser Attacke gegen Trump auf die Seite der Demokraten schlagen konnte, sein verstorbener Vater wäre sehr enttäuscht von diesem Kommentar. Der überwiegende Teil der Reaktionen sei jedoch zustimmend gewesen, sagt Galli. 3.000 verlorenen stünden 9.000 gewonnene Abonnenten gegenüber.
„Wir sollten dafür beten, dass Gott Trumps Leben verändert.“
Aber um solche Zahlen geht es Galli nicht. Er sieht sich selbst als eher unpolitischen Menschen. Eigentlich wollte er es vermeiden, über Trump und das Impeachment zu schreiben. Aber es sei an der Zeit gewesen, Stellung zu beziehen. Es nicht zu tun, wäre unverantwortlich gewesen, fand er. Auch bei den Amtsenthebungsverfahren gegen die früheren Präsidenten Richard Nixon und Bill Clinton hatte sich Christianity Today geäußert. Galli argumentierte bewusst aus einer theologischen Perspektive heraus, nicht politisch, und formulierte seine Sorge um die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses, wenn fromme Evangelikale einem Präsidenten huldigen, für den Moral ein Fremdwort zu sein scheint.
Dass die meisten evangelikalen Christen 2016 für Trump stimmten, sei im Grunde nicht verwunderlich, erklärt Galli, denn Evangelikale wählten schon seit Jahrzehnten ganz überwiegend republikanisch. Und es gebe auch viele, die Trump mit Bauchschmerzen gewählt hätten, weil sie die Kandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, für die schlechtere Option gehalten hätten. Was Galli vor allem kritisiert, ist, wie ergeben manche Christen Trump unterstützen und ihn geradezu als Erlöserfigur stilisieren. „Trump ist ihr Champion, er wird sie und Amerika vor der Zerstörung der Linken retten“, erklärt er die Haltung, die dahinter steht. Denn viele fromme Evangelikale, die von biblischen Moralvorstellungen geprägt seien, fühlten sich durch die gesellschaftliche Liberalisierung immer mehr an den Rand gedrängt: sei es beim Thema Homo-Ehe, bei der Diskussion um Abtreibung oder Gender-Fragen; aber auch die Globalisierung und die technische Entwicklung habe viele Menschen wirtschaftlich abgehängt.
„Dieses Gefühl kann ich verstehen“, sagt Galli. „Ich bin als Christ sehr traurig darüber, dass die Moral auf vielen Ebenen nachlässt. Die Unfähigkeit unserer Behörden und des Rechtsstaats, die Ausbreitung der Pornografie zu stoppen, die Scheidungsrate, die Zahl der Abtreibungen, immer mehr Drogenabhängige; auch die immer größere Spanne zwischen Armen und Reichen ist ein riesiges Problem. Aber ich glaube nicht, dass allein die Säkularen und Linken daran schuld sind.“ Die Konservativen und die Kirchen sieht er ebenso in der Verantwortung für diese Entwicklung.
Christen haben Gott vergessen
Dass viele der Evangelikalen sich so stark mit republikanischer Politik identifizieren, Kirche und Nation nahezu gleichsetzen, ist für Galli ein Zeichen für die Krise, in der die Glaubensbewegung seiner Meinung nach steckt. „Politik ist für viele Menschen an die Stelle der Religion getreten. Dort finden sie Bedeutung und Sinn. Auch Christen stehen in dieser Versuchung“, sagt Galli. Das eigentliche Problem sieht er deshalb darin: Evangelikale haben ihre Beziehung zu Gott vernachlässigt. Das analysiert er in seinem neuen Buch „When did we start forgetting God?“ (Wann haben wir angefangen, Gott zu vergessen?), das im März im amerikanischen Tyndale-Verlag erschien. Darin führt er aus, dass die vertikale Orientierung, also die zu Gott, und die horizontale, auf die Welt und die Menschen bezogene Ausrichtung vieler Evangelikaler aus dem Gleichgewicht gekommen sei – zu Ungunsten der Beziehung nach oben.
„Wir sind sehr gut darin, unseren Nächsten zu lieben. Aber das tritt an die Stelle der Liebe zu Gott“, macht er im Gespräch seinen Punkt deutlich. Im Doppelgebot der Liebe, das Jesus formulierte, steht aber die Liebe zu Gott von ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Kräften an erster Stelle. Die Sehnsucht nach Gott hat die evangelikale Bewegung in Gallis Augen einmal ausgezeichnet. Aber sie sei nicht mehr das, was sie charakterisiere. Galli kritisiert, dass Evangelikale ihren Fokus immer stärker auf Mission oder gesellschaftliche Transformation legen. Darin sieht er die Gefahr, dass sich Christen vor allem um sich selbst und ihre Aktivitäten drehen, Gott werde zu einem Mittel zum Zweck, die Welt zu verändern.
„Der Auftrag der Kirche ist es nicht, hinauszugehen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ein Segen zu sein, die Kultur zu verändern, Gerechtigkeit auf die Erde zu bringen, für das menschliche Gedeihen zu arbeiten. Die Bestimmung der Kirche und ihr Zweck ist es, in Liebe in Christus zusammenzuleben zum Lob von Gottes Ehre.“ Gemeinde ist der Ort, an dem Heilige gemacht werden, schreibt Galli, ein „Labor der Liebe“, wo Menschen miteinander und mit Gott Gemeinschaft haben und im Vorbild Jesu wachsen – trotz aller Unterschiede und Fehler. Zu diesem Ort sollen Christen andere Menschen einladen. Die Aufgabe der Kirche ist es dabei, ihre Mitglieder zu ermutigen und dazu zu befähigen, ein geheiligtes Leben zu führen und so ein Werkzeug Gottes in der Welt zu sein.
Trump als Ebenbild Gottes
Jeder Christ könne in seinem Umfeld ein Zeuge von Gottes Liebe sein. Aber nicht jeder aus der Gemeinde sei dazu berufen, als Missionar in die Welt zu gehen. Genauso könnten sich Christen politisch engagieren, in sozialen Organisationen oder im Umweltschutz. Zur Kernaufgabe der Kirche gehörten diese Themenfelder jedoch nicht, stellt Galli klar, denn dafür gebe es Experten. Sollte sich die Kirche dann überhaupt politisch zu Wort melden? „Ja und nein“, findet er. „Es gibt Zeiten, wo es wichtig ist, dass sich die Kirche äußert.“ Das Impeachement Trumps sei so ein Zeitpunkt gewesen, weshalb er entschieden habe, sein Editorial zu schreiben. Als besonders gewichtiges Beispiel nennt er auch die Barmer Theologische Erklärung von 1934, in der sich deutsche Kirchenvertreter gegen eine Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus positionierten. „Wir könnten uns etwas mehr Gedanken darüber machen, wozu und wie wir uns äußern. Es gibt so viele politische Themen. Die Kirche könnte ihre ganze Kraft darauf verwenden, zu jedem einzelnen politischen Feld Stellung zu beziehen. Aber ist das das beste, was sie beitragen kann?“
Galli befürchtet, dass auch die Theologie der Kirchen säkularer wird, wenn sie vor allem „gesellschaftlich relevant“ sein wollen. Aber damit werde die Kirche noch weiter an Bedeutung verlieren, prophezeit er. Dann würden die Volkskirchen mehr und mehr aussehen wie die „Demokratische Partei beim Gebet und die evangelikalen Gemeinden wie die Republikanische Partei beim Lobpreis“. Diese politischen Tendenzen bei den amerikanischen Evangelikalen sind durch ihre Haltung zu Trump besonders sichtbar geworden, sie bestimmen auch das Bild, das in der deutschen Öffentlichkeit vielfach von ihnen gezeichnet wird.
Für die einen Hassfigur, für die anderen Erlöser. Galli sagt: „Trump ist moralisch verwirrt, zutiefst narzisstisch und hat seine Zunge nicht unter Kontrolle. Aber er ist ein Mensch, der zum Bilde Gottes geschaffen wurde. Er ist kein Idol, dem wir uns unterwerfen müssen. Er ist auch nicht die Inkarnation des Bösen, dem wir uns entgegenstellen müssen, koste es, was es wolle.“ Ob der Präsident den Glauben instrumentalisiert, um die konservativen Christen auf seine Seite zu bekommen? Ja, sicherlich, meint Galli. So wie jeder Politiker die Interessen seiner Klientel bedient. Vielleicht aber finde er im Glauben der evangelikalen Christen auch etwas, was ihm in seinem Leben fehlt. „Wir sollten dafür beten, dass Gott sein Leben verändert.“
Von: Jonathan Steinert
Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 3/2020 des Christlichen Medienmagazins pro, das sie hier bestellen können.