Die Sonne scheint hell, aber sie wärmt nicht, als Angela Merkel am vergangenen Freitag zum ersten Mal Auschwitz besucht, den dunkelsten Ort der Menschheitsgeschichte. Die Bundeskanzlerin würdigt die einzigartige Bedeutung der Gedenkstätte in einer einfühlsamen Rede, in der sie an die Opfer der Scho’ah erinnert und anmahnt, keinen Antisemitismus zu dulden.
Der Besuch Merkels in Auschwitz hat große Aufmerksamkeit hervorgerufen. Vor ihr waren als Bundeskanzler Helmut Schmidt (1977) und zweimal Helmut Kohl (1989 und 1995) hierher gereist. Nun war fast ein Vierteljahrhundert lang kein Regierungschef aus Deutschland mehr an diesem ehemaligen Konzentrations- und Massenvernichtungslager, das zu einem Synonym für den Holocaust geworden ist.
Gestiftetes Gedenken
Offizieller Anlass für die Reise der Bundeskanzlerin war das zehnjährige Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau. Diese hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gebäude, Baracken, Ruinen und Zäune vor dem Verfall zu schützen. Auch will sie die vielen Dokumente und Habseligkeiten aus dem Besitz der Häftlinge restaurieren und konservieren, die auf dem riesigen Areal gefunden wurden und gefunden werden. Bei den Restaurierungsarbeiten kommen immer wieder neue Gegenstände zutage.
Die Stiftung war 2009 auf Initiative des inzwischen verstorbenen polnischen Außenministers Władysław Bartoszewski gegründet worden, der selbst politischer Häftling in Auschwitz war. Sie wird von zahlreichen Ländern unterstützt, die in einen Stiftungsfonds einzahlen, aus dem die notwendigen Arbeiten für den Erhalt der Gedenkstätte finanziert wird. Deutschland hat bei der Gründung 60 Millionen Euro dazu beigetragen und stellt nun nochmals den gleichen Beitrag zur Verfügung.
Wie sinnvoll und wertvoll die Arbeit der Stiftung ist, machen der gute Zustand des rund 80 Jahre alten Areals und die hohen, kontinuierlich steigenden Besucherzahlen deutlich. Mehr als zwei Millionen Menschen aus aller Welt besuchen jährlich die Gedenkstätte. Am Ende dieses Jahres werden es knapp 2,3 Millionen Besucher sein, im Durchschnitt täglich rund 6.300, davon viele junge Menschen.
Zeugnisse des Grauens
Auch an diesem bitterkalten Dezembertag bilden sich Schlangen vor dem Eingang zu Auschwitz I, dem ältesten Teil und sogenannten Stammlager. Gruppe um Gruppe zieht durch das Gelände. Führungen in allen Sprachen finden statt, es herrscht ein lebhaftes Treiben. Dann, am späteren Vormittag, wird es stiller, der Einlass wegen des Staatsgastes vorübergehend geschlossen. Schließlich befinden sich nur noch Sicherheitsmitarbeiter, Journalisten, Fotografen und Kameraleute auf dem Gelände. Mehr als 100 Journalisten aus aller Welt haben sich akkreditiert, um über den Besuch zu berichten. Sie warten hinter dem Tor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“, wo die ersten offiziellen Fotos und Filmaufnahmen von den Besuchern gemacht werden.
An der Seite Merkels gehen der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki und der Direktor der Gedenkstätte und Stiftungspräsident Piotr Cywiński durch das Tor. Ihnen folgen der Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein sowie Repräsentanten jüdischer Organisationen.
Am Eingang passieren sie eine Schautafel, die an das Lagerorchester erinnert, das laut Aussagen von Überlebenden wunderschön gespielt hat, wenn die zur Zwangsarbeit bestimmten Häftlinge morgens und abends durch das Tor gingen. Jetzt hört man das mechanische Surren und Klicken Dutzender Kameras, die den Moment festhalten.
Die Bundeskanzlerin besichtigt mehrere Blöcke des Stammlagers, in denen die Dauerausstellung untergebracht ist. Die original erhaltenen Einrichtungen sowie die zahlreichen Dokumente und Gegenstände belegen, was hier in den Jahren 1940 bis 1945 geschehen ist. Hinter Glas aufgetürmte Berge von Brillen, Koffern, Kleidung, Schuhen, Blechgeschirr, Rasierpinseln, Haarbürsten und zwei Tonnen Haare, die ermordeten Frauen abgeschnitten wurden, um sie industriell weiterzuverwerten – allesamt Zeugnisse des unbeschreiblichen Grauens, das hier stattgefunden hat.
Am Ende des Rundgangs durch Auschwitz I findet eine Zeremonie zu Ehren der Opfer statt. Merkel und Morawiecki legen an der berüchtigten Schwarzen Wand in einem Innenhof des Todesblocks, an der Tausende KZ-Häftlinge erschossen wurden, sichtlich bewegt Kränze nieder und verneigen sich vor den Toten.
Appell wider das Vergessen
Anschließend fährt der Konvoi mit den Besuchern in den drei Kilometer entfernten Lagerkomplex Auschwitz II-Birkenau. Hier haben die Massenvernichtungen stattgefunden, hier wurden die Juden aus den Viehwaggons, in denen sie zusammengepfercht oft Tausende von Kilometern zurückgelegt hatten, selektiert und die meisten von ihnen direkt in die Gaskammern geschleust. Das riesige Gelände veranschaulicht die ungeheuren Dimensionen des nationalsozialistischen Verbrechens. Insgesamt wurden damals 1,3 Millionen Menschen aus ganz Europa nach Auschwitz deportiert, nur 200.000 haben überlebt. Einige wenige von ihnen sind heute noch am Leben und können als Zeitzeugen von den Nazi-Gräueln berichten.
Einer dieser Zeitzeugen ist der 87-jährige Bogdan Bartnikowski, mit dem Angela Merkel an diesem Tag in der sogenannten Sauna zusammentrifft, wo eine Gedenkfeier anlässlich des Stiftungsjubiläums stattfindet. Bartnikowski war zwölf Jahre alt, als er mit seiner Mutter im August 1944 von Warschau nach Auschwitz gebracht wurde. Er war nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands gegen die Deutschen festgenommen worden, weil er als Laufbursche für die Widerstandskämpfer tätig war. In der „Sauna“ wurden damals die angekommenen Häftlinge desinfiziert und registriert.
Bartnikowski bekam die Nummer 1192731 auf den Arm tätowiert. Er berichtet, wie er sich geschämt hat, als er sich vor allen Leuten ausziehen musste, wie er sich im Lager danach sehnte, seine Mutter wiederzusehen, die von ihm getrennt in einer weit entfernten Baracke untergebracht worden war, und wie ihm die SS-Aufseher sagten, der einzige Weg aus dem Lager in die Freiheit führe durch den Schornstein.
Seine Schilderungen und seine Anwesenheit bei dieser Feierstunde machen eindringlich bewusst, wie wichtig das Erinnern ist und welche besondere Bedeutung die Gedenkstätte Auschwitz hat. Dies betont der polnische Regierungschef in seiner Ansprache, denn „wenn die Erinnerung geht, ist es, als hätten wir zum zweiten Mal die Menschen verletzt, die hier die Hölle erlebt haben“, sagt Morawiecki.
Merkel: Kein Schlussstrich, keine Relativierung
Als dann Merkel spricht, gehen ihre ersten Worte in den Geräuschen der Fotokameras fast unter. „Heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, fällt mir alles andere als leicht“, beginnt die Bundeskanzlerin ihre Rede, in der sie die richtigen Worte und den richtigen Ton findet, um über etwas zu sprechen, worüber man kaum sprechen kann.
„Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden – Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten. Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan wurde, muss man eigentlich verstummen“, sagt sie, und dann: „Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein. Dieser Ort verpflichtet uns, die Erinnerung wachzuhalten. Wir müssen uns an die Verbrechen erinnern, die hier begangen wurden, und sie klar benennen.“ Genau dies hat sie getan, auch indem sie klar benennt, dass Auschwitz 1939 als Teil des Deutschen Reichs annektiert worden war: „Auschwitz war ein deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager. Es ist mir wichtig, diese Tatsache zu betonen. Das sind wir Deutschen den Opfern schuldig und uns selbst.“
Merkel bekennt sich klar zur Verantwortung Deutschlands, den Opfern ein würdiges Andenken zu bewahren. Und sie richtet den Blick auf heute, spricht von dem „blühenden jüdischen Leben in Deutschland“ und den „vielfältigen und freundschaftlichen Beziehungen“ zu Israel, die sie „alles andere als eine Selbstverständlichkeit“, sondern als „ein großes Geschenk“ sieht, das „gar einem Wunder gleicht“. Die Bundeskanzlerin sieht dies jedoch aktuell bedroht durch „besorgniserregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikten“. Sie sorgt sich um „einen gefährlichen Geschichtsrevisionismus“ und „den Antisemitismus, der jüdisches Leben in Deutschland, in Europa und darüber hinaus bedroht“.
Dann zitiert sie den italienischen Autor Primo Levi, der Auschwitz überlebt hat: „Es ist geschehen. Folglich kann es wieder geschehen.“ Und appelliert: „Daher dürfen wir unsere Augen und Ohren nicht verschließen, wenn Menschen angepöbelt, erniedrigt oder ausgegrenzt werden … Wir alle tragen Verantwortung. Und zu dieser Verantwortung gehört auch das Gedenken. Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstrich kann es nicht geben – und auch keine Relativierung.“
Nach der Feierstunde besucht die Delegation weitere Stätten des Birkenau-Geländes. Am Mahnmal bei den Ruinen der Krematorien gedenken Merkel und Morawiecki gemeinsam mit Bartnikowski und zwei weiteren Zeitzeuginnen der Opfer der Massenvernichtung. Anschließend gehen sie durch die eisige Kälte bis zur Rampe, an der ein einziger Waggon an die Züge erinnert, in denen die Menschen nach Auschwitz transportiert wurden, zu dem einzigen Zweck, sie zu vernichten. „Ich verneige mich vor den Opfern der Scho’ah, ich verneige mich vor ihren Familien“, schloss Angela Merkel ihre Rede.
Der Besuch war ein würdiges Ereignis. Und die Botschaft, die er an uns alle aussenden sollte ist die, Auschwitz zu besuchen, die Erinnerung wach zu halten und für die heute lebenden Jüdinnen und Juden einzutreten, überall auf der Welt.
Jürgen Sterzenbach ist Mitglied im Vorstand der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Düsseldorf.