pro: Herr Kubicki, Ihr liebster Bibelvers ist Johannes 1, Vers 1: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“
Wolfgang Kubicki: Ich war ja mal als Bibellehrer beim Christlichen Verein Junger Männer (CVJM, heute: Junger Menschen; Anm. d. Red.). Mir war die Übersetzung der Bruns-Bibel wichtig. Da steht: „Am Anfang war die Liebe und die Liebe war bei Gott und die Liebe war Gott.“ Das hat mich beeindruckt. Das ganze Johannesevangelium ist geprägt von diesem Gedanken.
Johannes verweist damit auf Jesus Christus. So gesehen ist das ein ziemlich frommer Lieblingsbibelvers für einen, der wie Sie von sich selbst sagt, er sei „nicht besonders fromm“.
Was bedeutet denn fromm? Ich habe auf jeden Fall ein Problem mit dem Frömmeln. Ich sage immer wieder: Gott muss ein lustiges Kerlchen sein, weil er den Menschen so geschaffen hat, wie er ist. Manchmal amüsiert er sich wahrscheinlich über uns. Er gibt uns dennoch jede Freiheit, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich lese die Bibelstelle so: Das, was man aus Liebe tut, ist immer gerecht. Wenn das fromm ist, kann ich damit sehr gut leben.
Wie viel Liberalismus steckt im Christentum?
Sehr viel. Gott gibt uns absolute Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Das gesamte Neue Testament ist von der Idee durchzogen, dass der Mensch seine Entscheidungen trifft und für sie auch einstehen muss. Er ist verantwortlich für das, was er denkt, und kann das nicht abschieben auf Gottes Willen oder die Vorsehung. Unsere Gesellschaft entwickelt sich gerade gegenläufig. Die Menschen suchen Orientierung – und zwar nicht bei sich selbst, sondern bei anderen. Viele fühlen sich aufgehoben bei rechts- oder linkspopulistischen Bewegungen, die ihnen Verantwortung abnehmen. Für beide Richtungen gilt: Wer sich im Besitz letzter Wahrheiten glaubt, wird unduldsam und intolerant. Das ist das Gegenteil dessen, was das Christentum einfordert.
Zum christlichen Menschenbild gehört auch die Idee, dass der Mensch auf Hilfe angewiesen ist und sein Leben eben nicht alleine in den Griff bekommt. Am Anfang der Geschichte des Menschen steht die Sünde.
Ich glaube, dass das Menschenbild des Christentums ein völlig anderes ist. Der Mensch ist Gottes Ebenbild. Wäre er an sich schlecht, dann wäre Gott es auch. Wir selbst bestimmen darüber, wie nah oder fern wir Gott sind, ob wir uns an seine Regeln halten, oder nicht.
Sollte jeder junge Mensch die Bibel kennen?
Ja. Die Bibel ist Teil des Wertefundaments, auf dem unser Rechtssystem aufgebaut ist. Sie bestimmt also auch heute noch unser Leben in vielfältiger Weise. Auch der Grundsatz, dass wir Verantwortung für unsere Mitmenschen übernehmen, durchzieht das Neue Testament und ist für uns heute ein wichtiger Grundsatz. Dass wir uns ebenfalls nicht über andere erheben sollen: Jesus hatte keine Scheu, etwa mit Prostituierten gesehen zu werden. Wir müssen einander in Demut begegnen. Das alles sind tragende Grundsätze unseres Gemeinwesens.
Hat das Studium der Bibel Ihr politisches Handeln geprägt?
In gewisser Weise war Jesus Anarchist und insofern revolutionär, würde ich sagen. Er hat mit den Regeln seiner Zeit gebrochen, hat versucht, zu dokumentieren, wie die Menschen ihr Leben besser und in Nähe zu Gott gestalten können. Das hat für mich Vorbildcharakter. Ich bin über diesen Umweg zum Liberalismus abgebogen, weil ich glaube, dass ich selbst verantwortlich für mein Leben bin und niemand anderes. Ich höre die Leute immer beten, dass Gott ihnen hilft. Ich glaube, sie müssen zunächst sich selbst helfen. Wenn das nicht mehr funktioniert, sollen sie wiederkommen. Sie können nicht von Gott erwarten, dass er ihnen ihre Aufgaben abnimmt.
Sie haben mit dem CVJM gebrochen …
Das war, als ich meine erste Frau kennenlernte, die katholisch war. Die Älteren im CVJM hießen das nicht gut. Und sie wollten mich davon abhalten, meiner Liebe zu folgen und nach Kiel zu gehen. Ich hingegen sagte mir: Alles, was ich aus Liebe tue, ist richtig – und folgte meiner Frau. Den CVJM habe ich hinter mir gelassen – offensichtlich hatte er zentrale Punkte der Bibel nicht verinnerlicht.
Das sollte nicht Ihre letzte kritische Auseinandersetzung mit der Kirche bleiben. Sie waren Kirchenvorstand einer evangelischen Gemeinde …
Vier Jahre lang. Ich erinnere mich an Kirchenvorstandssitzungen, bei denen es nur darum ging, Grundstücke zu behalten, zu tauschen, das Vermögen zu mehren und so weiter. Ein Schlüsselerlebnis für mich war, als eine Vikarin weggemobbt worden ist, weil sie eine Obdachlosenhilfe etablieren wollte. Die Kirche sorgte sich um ihr Vermögen, nach der Devise: Wenn jetzt alle kommen und versorgt werden wollen, dann gibt es ein Problem. Das hat bei mir einen Knacks hinterlassen.
Sollte jeder junge Mensch die Bibel kennen?
Ja. Die Bibel ist Teil des Wertefundaments, auf dem unser Rechtssystem aufgebaut ist. Sie bestimmt also auch heute noch unser Leben in vielfältiger Weise. Auch der Grundsatz, dass wir Verantwortung für unsere Mitmenschen übernehmen, durchzieht das Neue Testament und ist für uns heute ein wichtiger Grundsatz. Dass wir uns ebenfalls nicht über andere erheben sollen: Jesus hatte keine Scheu, etwa mit Prostituierten gesehen zu werden. Wir müssen einander in Demut begegnen. Das alles sind tragende Grundsätze unseres Gemeinwesens.
Hat das Studium der Bibel Ihr politisches Handeln geprägt?
In gewisser Weise war Jesus Anarchist und insofern revolutionär, würde ich sagen. Er hat mit den Regeln seiner Zeit gebrochen, hat versucht, zu dokumentieren, wie die Menschen ihr Leben besser und in Nähe zu Gott gestalten können. Das hat für mich Vorbildcharakter. Ich bin über diesen Umweg zum Liberalismus abgebogen, weil ich glaube, dass ich selbst verantwortlich für mein Leben bin und niemand anderes. Ich höre die Leute immer beten, dass Gott ihnen hilft. Ich glaube, sie müssen zunächst sich selbst helfen. Wenn das nicht mehr funktioniert, sollen sie wiederkommen. Sie können nicht von Gott erwarten, dass er ihnen ihre Aufgaben abnimmt.
Sie haben mit dem CVJM gebrochen …
Das war, als ich meine erste Frau kennenlernte, die katholisch war. Die Älteren im CVJM hießen das nicht gut. Und sie wollten mich davon abhalten, meiner Liebe zu folgen und nach Kiel zu gehen. Ich hingegen sagte mir: Alles, was ich aus Liebe tue, ist richtig – und folgte meiner Frau. Den CVJM habe ich hinter mir gelassen – offensichtlich hatte er zentrale Punkte der Bibel nicht verinnerlicht.
Das sollte nicht Ihre letzte kritische Auseinandersetzung mit der Kirche bleiben. Sie waren Kirchenvorstand einer evangelischen Gemeinde …
Vier Jahre lang. Ich erinnere mich an Kirchenvorstandssitzungen, bei denen es nur darum ging, Grundstücke zu behalten, zu tauschen, das Vermögen zu mehren und so weiter. Ein Schlüsselerlebnis für mich war, als eine Vikarin weggemobbt worden ist, weil sie eine Obdachlosenhilfe etablieren wollte. Die Kirche sorgte sich um ihr Vermögen, nach der Devise: Wenn jetzt alle kommen und versorgt werden wollen, dann gibt es ein Problem. Das hat bei mir einen Knacks hinterlassen.
„Mit symbolhaften Akten wie dem Kauf eines Rettungsschiffes gibt sich die Kirche der Lächerlichkeit preis.“
Sie sind letztendlich aus der Kirche ausgetreten. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Am Ende habe ich denen klipp und klar gesagt, dass ich nicht länger bereit sei, mit meinen Steuermitteln dazu beizutragen, dass sie andauernd Politik machen, statt den Glauben zu verbreiten.“ Darf die Kirche nicht politisch sein?
Sie soll sich politisch engagieren und einsetzen, aber dass die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland beschließt, Tempo 130 auf Autobahnen haben zu wollen, finde ich schon ziemlich heftig.
Sollte die Kirche ein Seenotrettungsschiff ins Mittelmeer schicken?
Die Kirche sollte sich dafür einsetzen, dass die Seenotrettung staatlicherseits im Mittelmeer organisiert wird. Aber sie sollte keine symbolhaften Akte vollziehen in Diskussionen, die sehr antagonistisch geführt werden. Sie macht sich damit zum Gegenstand politischer Erörterung, und ich weiß nicht, ob das der Kirche dauerhaft hilft. Dass sie sich für Menschenleben einsetzt, ist selbstverständlich. Aber Menschenrettung ist auch staatliche Aufgabe. Mit symbolhaften Akten wie dem Kauf eines Rettungsschiffes gibt sich die Kirche der Lächerlichkeit preis. Für mich ist das auch ein Feigenblatt: Bischöfe der Evangelischen Kirche fliegen erster Klasse nach Indien, um das Leid der Welt zu begutachten, katholische Bischöfe bauen sich goldene Badewannen, aber welche Vermögenswerte investieren die Amtskirchen denn, um wirklich zu helfen?
Sie sind auch gegen die Praxis des Kirchenasyls.
Es ist rechtswidrig, wenn ich erlaube, dass die Kirchen in einem demokratischen Rechtsstaat das Recht selbst in die Hand nehmen. Es gibt keinen Grund für ein Kirchenasyl, wir haben rechtsstaatliche Abläufe für Migration. Und ich sehe auch nicht, warum eine solche Praxis ausgerechnet den Kirchen zugestanden wird, anderen Organisationen aber nicht.
Braucht der Staat kein moralisches Korrektiv? Was ist, wenn er sich irrt? Etwa wenn er – wie von den Kirchen ja hinlänglich kritisiert – humanitäre Härten nicht anerkennt oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fragwürdige Ausweisungsentscheidungen trifft?
Das würde bedeuten, dass die Kirche die letzte Instanz der Moral ist. Was machen wir dann mit Organisationen, die das auch für sich in Anspruch nehmen? Es gibt hier in Berlin Menschen, die glauben, sie hätten das Recht im Zeichen der sozialen Verantwortung andere zu attackieren. Es ist eine Anmaßung, wenn die Kirche denkt, sie stünde über dem Gesetz. Wer entscheidet letztlich darüber, welche Moralvorstellungen die richtigen sind? Was ist mit anderen religiösen Gruppen? Wir haben bei uns viele Muslime, die eine völlig andere Vorstellung des menschlichen Zusammenlebens haben als etwa ich aufgrund meiner christlichen Erziehung. Wir würden nicht akzeptieren, dass ein Mann seiner Frau sagt, sie darf nicht auf die Straße gehen. Dabei argumentieren diese Menschen doch ebenfalls auf der Grundlage moralischer Kategorien.
Der Staat existiert aber nicht losgelöst von moralischen Überlegungen. Deshalb gibt es Instanzen wie den Deutschen Ethikrat. Ebenso bringen sich die Kirchen ein. Nehmen wir das Thema Sterbehilfe …
Ja, der Staat muss diese Überlegungen wahrnehmen, um abwägen zu können. Insofern sollen und müssen sich die unterschiedlichen Gruppen einbringen. Dennoch darf die Kirche nicht den Anspruch erheben, dass alle ihr folgen müssen. Ich persönlich habe meine Haltung zur Sterbehilfe komplett geändert, nachdem ich meinen Bruder an einer neurologischen Erkrankung habe sterben sehen. Ich war zuvor strikt gegen Sterbehilfe, auch aus juristischen Gründen. Ich war überzeugt: Niemand ist berechtigt, das Leben zu verkürzen, außer mir selbst. Aber als ich damals vor seinem Bett stand, dachte ich: Wärst du ein Hund, ich würde dich erlösen. Deshalb denke ich heute: Es muss eine Möglichkeit dazu geben, wenn jemand seinen Willen entsprechend geäußert hat.
Die Kirche argumentiert: Jedes Leben ist lebenswert.
Ja, das stimmt. Aber wenn jemand für sich selbst feststellt, dass er es nicht mehr als solches empfindet, dann ist das zu respektieren. Zur Würde des Menschen gehört auch ein würdiges Sterben. Und darüber entscheidet jeder selbst. Bei der Frage der Abtreibung sehe ich es übrigens ähnlich. Das Bundesverfassungsgericht hat hier eine sehr differenzierte Abwägung getroffen. Niemand hat etwas davon, wenn eine werdende Mutter so verzweifelt ist, dass sie sich das Leben nimmt, und damit sich und das Kind tötet, weil sie keinen anderen Ausweg sieht. Aber es gilt auch: Je älter der Fötus wird, desto stärker weicht das Recht der Frau, darüber zu entscheiden, und desto stärker wird das Recht des Fötus auf eigenes Leben. Wenn die Katholische Kirche sagt, ich gehe jetzt ins Fegefeuer, weil ich dafür bin, dass Frauen abtreiben dürfen, dann nehme ich das gern auf mich.
Sie sagen heute von sich: „Gläubig bin ich immer noch … die naive kindliche Vorstellung eines personalisierten Gottes teile ich natürlich nicht.“ Was ist naiv daran, an einen persönlichen Gott zu glauben?
Ist Gott weiblich oder männlich? Ist er alt oder jung? Behindert oder nicht behindert? Gott hat die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Das heißt aber nicht, dass Gott so aussieht wie ich oder Sie. Deshalb mache ich mir keine physische Vorstellung von Gott. Für mich ist er die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Ich stelle mir Gott nicht vor, wie er in Kirchenfenstern dargestellt ist. Er hat keine Körperlichkeit.
Und Jesus?
Gott brauchte Jesus als Demonstration seiner Liebe zu den Menschen. Die Grundlage unseres christlichen Glaubens liegt darin, dass wir akzeptieren, dass Christus Gottes Sohn war. Ich glaube, dass es ihn gab und dass sich seine Geschichte so abgespielt hat. Ich glaube auch, dass Gott so dokumentiert hat, wie weit er bereit ist zu gehen, um die Beziehung zwischen ihm und den Menschen aufrecht zu erhalten. Die Idee aber, dass nach unserem Tode Gott, Jesus und der Heilige Geist nebeneinander sitzen und uns empfangen, halte ich für der Zeit geschuldet.
Herr Kubicki, vielen Dank für das Gespräch!
Sie sind letztendlich aus der Kirche ausgetreten. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Am Ende habe ich denen klipp und klar gesagt, dass ich nicht länger bereit sei, mit meinen Steuermitteln dazu beizutragen, dass sie andauernd Politik machen, statt den Glauben zu verbreiten.“ Darf die Kirche nicht politisch sein?
Sie soll sich politisch engagieren und einsetzen, aber dass die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland beschließt, Tempo 130 auf Autobahnen haben zu wollen, finde ich schon ziemlich heftig.
Sollte die Kirche ein Seenotrettungsschiff ins Mittelmeer schicken?
Die Kirche sollte sich dafür einsetzen, dass die Seenotrettung staatlicherseits im Mittelmeer organisiert wird. Aber sie sollte keine symbolhaften Akte vollziehen in Diskussionen, die sehr antagonistisch geführt werden. Sie macht sich damit zum Gegenstand politischer Erörterung, und ich weiß nicht, ob das der Kirche dauerhaft hilft. Dass sie sich für Menschenleben einsetzt, ist selbstverständlich. Aber Menschenrettung ist auch staatliche Aufgabe. Mit symbolhaften Akten wie dem Kauf eines Rettungsschiffes gibt sich die Kirche der Lächerlichkeit preis. Für mich ist das auch ein Feigenblatt: Bischöfe der Evangelischen Kirche fliegen erster Klasse nach Indien, um das Leid der Welt zu begutachten, katholische Bischöfe bauen sich goldene Badewannen, aber welche Vermögenswerte investieren die Amtskirchen denn, um wirklich zu helfen?
Sie sind auch gegen die Praxis des Kirchenasyls.
Es ist rechtswidrig, wenn ich erlaube, dass die Kirchen in einem demokratischen Rechtsstaat das Recht selbst in die Hand nehmen. Es gibt keinen Grund für ein Kirchenasyl, wir haben rechtsstaatliche Abläufe für Migration. Und ich sehe auch nicht, warum eine solche Praxis ausgerechnet den Kirchen zugestanden wird, anderen Organisationen aber nicht.
Braucht der Staat kein moralisches Korrektiv? Was ist, wenn er sich irrt? Etwa wenn er – wie von den Kirchen ja hinlänglich kritisiert – humanitäre Härten nicht anerkennt oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fragwürdige Ausweisungsentscheidungen trifft?
Das würde bedeuten, dass die Kirche die letzte Instanz der Moral ist. Was machen wir dann mit Organisationen, die das auch für sich in Anspruch nehmen? Es gibt hier in Berlin Menschen, die glauben, sie hätten das Recht im Zeichen der sozialen Verantwortung andere zu attackieren. Es ist eine Anmaßung, wenn die Kirche denkt, sie stünde über dem Gesetz. Wer entscheidet letztlich darüber, welche Moralvorstellungen die richtigen sind? Was ist mit anderen religiösen Gruppen? Wir haben bei uns viele Muslime, die eine völlig andere Vorstellung des menschlichen Zusammenlebens haben als etwa ich aufgrund meiner christlichen Erziehung. Wir würden nicht akzeptieren, dass ein Mann seiner Frau sagt, sie darf nicht auf die Straße gehen. Dabei argumentieren diese Menschen doch ebenfalls auf der Grundlage moralischer Kategorien.
Der Staat existiert aber nicht losgelöst von moralischen Überlegungen. Deshalb gibt es Instanzen wie den Deutschen Ethikrat. Ebenso bringen sich die Kirchen ein. Nehmen wir das Thema Sterbehilfe …
Ja, der Staat muss diese Überlegungen wahrnehmen, um abwägen zu können. Insofern sollen und müssen sich die unterschiedlichen Gruppen einbringen. Dennoch darf die Kirche nicht den Anspruch erheben, dass alle ihr folgen müssen. Ich persönlich habe meine Haltung zur Sterbehilfe komplett geändert, nachdem ich meinen Bruder an einer neurologischen Erkrankung habe sterben sehen. Ich war zuvor strikt gegen Sterbehilfe, auch aus juristischen Gründen. Ich war überzeugt: Niemand ist berechtigt, das Leben zu verkürzen, außer mir selbst. Aber als ich damals vor seinem Bett stand, dachte ich: Wärst du ein Hund, ich würde dich erlösen. Deshalb denke ich heute: Es muss eine Möglichkeit dazu geben, wenn jemand seinen Willen entsprechend geäußert hat.
Die Kirche argumentiert: Jedes Leben ist lebenswert.
Ja, das stimmt. Aber wenn jemand für sich selbst feststellt, dass er es nicht mehr als solches empfindet, dann ist das zu respektieren. Zur Würde des Menschen gehört auch ein würdiges Sterben. Und darüber entscheidet jeder selbst. Bei der Frage der Abtreibung sehe ich es übrigens ähnlich. Das Bundesverfassungsgericht hat hier eine sehr differenzierte Abwägung getroffen. Niemand hat etwas davon, wenn eine werdende Mutter so verzweifelt ist, dass sie sich das Leben nimmt, und damit sich und das Kind tötet, weil sie keinen anderen Ausweg sieht. Aber es gilt auch: Je älter der Fötus wird, desto stärker weicht das Recht der Frau, darüber zu entscheiden, und desto stärker wird das Recht des Fötus auf eigenes Leben. Wenn die Katholische Kirche sagt, ich gehe jetzt ins Fegefeuer, weil ich dafür bin, dass Frauen abtreiben dürfen, dann nehme ich das gern auf mich.
Sie sagen heute von sich: „Gläubig bin ich immer noch … die naive kindliche Vorstellung eines personalisierten Gottes teile ich natürlich nicht.“ Was ist naiv daran, an einen persönlichen Gott zu glauben?
Ist Gott weiblich oder männlich? Ist er alt oder jung? Behindert oder nicht behindert? Gott hat die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Das heißt aber nicht, dass Gott so aussieht wie ich oder Sie. Deshalb mache ich mir keine physische Vorstellung von Gott. Für mich ist er die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Ich stelle mir Gott nicht vor, wie er in Kirchenfenstern dargestellt ist. Er hat keine Körperlichkeit.
Und Jesus?
Gott brauchte Jesus als Demonstration seiner Liebe zu den Menschen. Die Grundlage unseres christlichen Glaubens liegt darin, dass wir akzeptieren, dass Christus Gottes Sohn war. Ich glaube, dass es ihn gab und dass sich seine Geschichte so abgespielt hat. Ich glaube auch, dass Gott so dokumentiert hat, wie weit er bereit ist zu gehen, um die Beziehung zwischen ihm und den Menschen aufrecht zu erhalten. Die Idee aber, dass nach unserem Tode Gott, Jesus und der Heilige Geist nebeneinander sitzen und uns empfangen, halte ich für der Zeit geschuldet.
Herr Kubicki, vielen Dank für das Gespräch!
Wolfgang Kubicki, Jahrgang 1952, war von 1990 bis 1992 Mitglied des Deutschen Bundestages und anschließend bis 2017 Abgeordneter im Landtag Schleswig-Holstein, bevor er wieder in den Bundestag einzog. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, seit 2017 Bundestagsvizepräsident.
Dieses Interview ist zuerst in der Ausgabe 6/2019 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie pro kostenlos hier.