Der Tag, an dem die Mauer fiel

Über Nacht wurde Berlin zum Nabel der Welt. Erinnerungen in Text und Bildern an den 9. November 1989 und die Tage danach von Christoph Irion
Von PRO
Ein Spalt in der Berliner Mauer: Am 9. November 1989 verliert das Bollwerk, das länger als 28 Jahre Millionen Menschen voneinander trennte, für immer seine Funktion.

Am Tag, als die Mauer fällt, da steht sie noch. Doch als am späten Abend des 9. November 1989 der DDR-Grenzkommandant Manfred Sens am „Sektorenübergang“ Bornholmer Straße die Schlagbäume öffnen lässt, da hat die Berliner Mauer, die seit 1961 mitten durchs Herz der geteilten Spree­metropole verlief, für immer ihre trennende Funktion verloren.

Meine Frau Dagmar und ich sind frisch verheiratet. Und das soll unser erster Kurzurlaub sein? Mitten in der Nacht zu Samstag stehen wir im Stau. Es ist zwei Uhr früh. Seit einer Stunde hängen wir in unserem roten Golf Memphis fest, im A111-Zubringertunnel im Berliner Nordwesten, Nähe Scharnwebertraße. Wir sind total k.o. – aber richtig gut drauf. Wie alle hier im Tunnel. Keiner ist genervt. Die Leute lachen, sind aus ihren Autos gestiegen, einige haben Sekt dabei. Wildfremde Menschen umarmen sich, prosten sich zu. Vorhin war Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper im Radio zu hören: „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt“, rief er tausenden Menschen zu. Und wir gehören zu den Hunderttausenden, für die an diesem Wochenende gilt: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“

Wie in einem Horrorfilm: nächtliche Bahngrenze und Sperranlagen bei Staaken im Berliner Westen (1986) Foto: Christoph Irion
Wie in einem Horrorfilm: nächtliche Bahngrenze und Sperranlagen bei Staaken im Berliner Westen (1986)
Mauerverlauf entlang der Niederkirchnerstraße in Berlin-Kreuzberg im Jahr 1986. Rechts: das Abgeordnetenhaus Foto: Christoph Irion
Mauerverlauf entlang der Niederkirchnerstraße in Berlin-Kreuzberg im Jahr 1986. Rechts: das Abgeordnetenhaus
Von Westen aus blicken am 11. November 1989 Menschen durch einen Spalt auf den Potsdamer Platz Foto: Christoph Irion
Von Westen aus blicken am 11. November 1989 Menschen durch einen Spalt auf den Potsdamer Platz
Die geöffnete Mauer an der Bernauer Straße, Nähe Brunnenstraße, Wedding, am 11. November 1989 Foto: Christoph Irion
Die geöffnete Mauer an der Bernauer Straße, Nähe Brunnenstraße, Wedding, am 11. November 1989
Südlich des Brandenburger Tors drängen DDR-Volkspolizisten am 11. November 1989 Menschen für ein paar Stunden von der Mauer zurück Foto: Christoph Irion
Südlich des Brandenburger Tors drängen DDR-Volkspolizisten am 11. November 1989 Menschen für ein paar Stunden von der Mauer zurück
In der Bernauer Straße (Wedding) verteilen Zeitungsverlage am 11. November 1989 kostenlose Sonderausgaben zum Mauerfall Foto: Christoph Irion
In der Bernauer Straße (Wedding) verteilen Zeitungsverlage am 11. November 1989 kostenlose Sonderausgaben zum Mauerfall
Ein Wartburg parkt am 11. November 1989 mitten im Tiergarten: Statt Knöllchen gibt es Blümchen. Foto: Christoph Irion
Ein Wartburg parkt am 11. November 1989 mitten im Tiergarten: Statt Knöllchen gibt es Blümchen.
Tausende Ost-Berliner besuchen erstmals den Westteil der Stadt. Hier, an der Bernauer Straße, gab es einst dramatische Fluchtszenen Foto: Christoph Irion
Tausende Ost-Berliner besuchen erstmals den Westteil der Stadt. Hier, an der Bernauer Straße, gab es einst dramatische Fluchtszenen
Tausende Menschen warten am 12. November 1989 am Potsdamer Platz auf Bundespräsident Richard von Weizsäcker Foto: Christoph Irion
Tausende Menschen warten am 12. November 1989 am Potsdamer Platz auf Bundespräsident Richard von Weizsäcker
Südlich von Reichstag und Brandenburger Tor besorgt sich dieser Mann ein Mauer-Souvenir Foto: Christoph Irion
Südlich von Reichstag und Brandenburger Tor besorgt sich dieser Mann ein Mauer-Souvenir

Der Startschuss zu all dem ist bereits am vorherigen Donnerstag gefallen: Es ist 18.53 Uhr. Günter Schabowski, Politbüromitglied der sozialistischen DDR-Einheitspartei SED, langweilt die internationale Journalistenmeute auf einer Pressekonferenz. Im typischen Verlautbarungs-Kauderwelsch der DDR-Politbürokratie „informiert“ er über die jüngste Krisensitzung des SED-Zentralkomitees (ZK). Nebulös redet er von Reformen. Ach ja, und da wäre auch noch eine neue Reiseverordnung.

Folgenreicher Versprecher

Die entscheidende Frage stellt der Italiener Riccardo Ehrman. Schabowskis Redeschwall dauert mehrere Minuten. Dann der Satz: „Und deshalb, äh, haben wir uns entschlossen, heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR, äh, auszureisen.“ Ein anderer setzt nach: „Ab wann? Wann tritt das in Kraft?“ Schabowski kratzt sich. Ihm ist entfallen, dass das ZK die Regelung erst am kommenden Tag „geordnet durchführen“ lassen will. Und es folgt der folgenreichste Versprecher der jüngeren Geschichte: Verwirrt antwortet Schabowski, seines Wissens trete die Regelung „sofort, unverzüglich“ in Kraft.

Vor allem deutsche Journalisten begreifen anfangs gar nicht, was diese Worte bedeuten. Die Bewohner Ostberlins, die Schabowskis Auftritt live am Fernseher verfolgt haben, verstehen umso besser: Tausende strömen zu den Grenzübergängen. „Der Schabowski hat gesagt, wir können jetzt reisen, nun lasst uns mal durch“, rufen sie den ahnungslosen Grenzposten zu. Tumultartige Szenen spielen sich ab. An den Kontrollstellen stauen sich die Massen, die Autoschlangen der Trabanten und Wartburgs werden immer länger. Schließlich beugen sich die Grenzer an der Bornholmer Straße dem Druck: „Es ist nicht mehr zu halten“, meldet ein Oberstleutnant. Ein Untergebener ruft: „Wir fluten.“

Bürgermeister Momper erfährt das Unfassbare um 22.25 Uhr, als er gerade in einer Talkrunde des damaligen Senders Freies Berlin (SFB) sitzt: „Mein Platz ist jetzt woanders“, sagt der Regierende und verlässt das Studio Richtung Brandenburger Tor – dort tanzen die Menschen auf der Mauer. In diesen Tagen erlebt ganz Berlin einen euphorischen Ausnahmezustand. Millionen Menschen strömen aus allen Himmelsrichtungen in die Hauptstadt. Sie sind fassungslos und besoffen vor Freude.

In Berlin ereignet sich Weltgeschichte

Vorgärten werden zu Parkplätzen, Ausfallstraßen zu Fußgängerzonen. Übernachtet wird bei Wildfremden, und überall gibt es Blumen und Sekt. Uns treibt es zum Brandenburger Tor, zum Potsdamer Platz, dann in die Bernauer Straße im Wedding und auch auf den Ku’damm. Ein Trabi-Fahrer kurbelt die Scheibe runter und ruft winkenden Passanten zu: „Ick fass’ mir pausenlos an’ Kopp. Ick fahr’ mit der Karre übern Kurfürstendamm.“ Hunderte Zweitakter verstopfen und verstänkern den ganzen Ku’damm – statt Genörgel ernten sie Szenenapplaus. Westberliner Taxifahrer chauffieren Ostgäste gratis durch die Stadt, zum Dank gibt es Bussis. Geschäfte, Kneipen, Restaurants haben rund um die Uhr geöffnet. Vor Banken bilden sich Menschenschlangen, selbst am Sonntag: Jeder „Ossi“ darf sich dort 100 Mark „Begrüßungsgeld“ zum Einkaufen abholen, Kanzler Helmut Kohl (CDU) hat das Geld locker gemacht.

Blick vom S-Bahnhof Wilhelmsruh zum Umspannwerk Kopenhagener Straße, Mitte der Achtzigerjahre und nach dem Mauerfall Foto: Archiv Christoph Irion
Blick vom S-Bahnhof Wilhelmsruh zum Umspannwerk Kopenhagener Straße, Mitte der Achtzigerjahre und nach dem Mauerfall
Mehrfamilienhäuser, Nähe S-Bahnhof Schönholz, Mitte der Achtzigerjahre und nach der Maueröffnung Foto: Archiv Christoph Irion
Mehrfamilienhäuser, Nähe S-Bahnhof Schönholz, Mitte der Achtzigerjahre und nach der Maueröffnung
Gewerbehalle in Wilhelmsruh, Höhe Waldsteg: Mitte der Achtzigerjahre mit DDR-Propagandaspruch und nach dem Mauerfall Foto: Archiv Christoph Irion
Gewerbehalle in Wilhelmsruh, Höhe Waldsteg: Mitte der Achtzigerjahre mit DDR-Propagandaspruch und nach dem Mauerfall
Gassigehen in Kreuzberg im Jahr 1987. Dieselbe Stelle am Bethaniendamm ist Jahre danach kaum wiederzuerkennen. Foto: Christoph Irion
Gassigehen in Kreuzberg im Jahr 1987. Dieselbe Stelle am Bethaniendamm ist Jahre danach kaum wiederzuerkennen.
Der Mauerstreifen im Berliner Norden, Nähe Kopenhagener Straße, Mitte der Achtzigerjahre und nach Beseitigung der Mauerreste Foto: Archiv Christoph Irion
Der Mauerstreifen im Berliner Norden, Nähe Kopenhagener Straße, Mitte der Achtzigerjahre und nach Beseitigung der Mauerreste

Weltgeschichte hat sich in diesen Tagen in Berlin ereignet. Der Traum von Freiheit wurde wahr. Und möglich wurde er durch die friedliche Revolution der Ostdeutschen. Die Kirchen haben, so scheint es, inmitten dieses Freudentaumels nicht viel zu melden. Christen und ihre Kirchen waren in der DDR ebenso begrenzt und verstrickt wie andere gesellschaftliche Gruppen. Ihr Image im real­sozialistischen Einheitsstaat war miserabel. Vor allem waren sie zahlenmäßig in der Defensive.

Doch haben vor dem Mauerfall gerade die Kirchen eine einzigartige Rolle gespielt, die ursächlich und elementar mit der christlichen Freiheits-, Friedens- und Versöhnungsbotschaft von Jesus Christus zu tun hat: Denn nicht nur in Leipzig und Berlin, sondern überall zwischen Zinnowitz und Zittau waren es mutige Pfarrer und Gemeindemitglieder, die Regimekritikern in ihren Kirchen Zuflucht gewährten. Der rabiaten Stasi-Staatsmacht setzten sie Kräfte entgegen, die transzendent wirken: Gibt es ein Mittel gegen „Friedensgebete“?

30 Jahre nach dem Mauerfall könnten im heutigen Deutschland manche Spaltungen, Wunden und Risse in den Biographien und in der Gesellschaft heilen, wenn wir aus der jüngeren Geschichte lernen. Angesichts von Brexit, Klimakrise, Flüchtlings- und Terrordebatten haben Christen auch heute nicht den Auftrag, alles besser zu wissen und die Machthebel in der Hand zu haben. Im Sinne der Bergpredigt Jesu, wie sie im Matthäus- evangelium steht, können und sollen sie „Salz“ und „Licht“ (5,13–14) sein – nicht mehr und nicht weniger. Wie damals die Christen in der DDR.

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2019 des Christlichen Medienmagazinr pro. Sie können die pro hier bestellen.

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