Am Tag, als die Mauer fällt, da steht sie noch. Doch als am späten Abend des 9. November 1989 der DDR-Grenzkommandant Manfred Sens am „Sektorenübergang“ Bornholmer Straße die Schlagbäume öffnen lässt, da hat die Berliner Mauer, die seit 1961 mitten durchs Herz der geteilten Spreemetropole verlief, für immer ihre trennende Funktion verloren.
Meine Frau Dagmar und ich sind frisch verheiratet. Und das soll unser erster Kurzurlaub sein? Mitten in der Nacht zu Samstag stehen wir im Stau. Es ist zwei Uhr früh. Seit einer Stunde hängen wir in unserem roten Golf Memphis fest, im A111-Zubringertunnel im Berliner Nordwesten, Nähe Scharnwebertraße. Wir sind total k.o. – aber richtig gut drauf. Wie alle hier im Tunnel. Keiner ist genervt. Die Leute lachen, sind aus ihren Autos gestiegen, einige haben Sekt dabei. Wildfremde Menschen umarmen sich, prosten sich zu. Vorhin war Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper im Radio zu hören: „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt“, rief er tausenden Menschen zu. Und wir gehören zu den Hunderttausenden, für die an diesem Wochenende gilt: „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!“
Der Startschuss zu all dem ist bereits am vorherigen Donnerstag gefallen: Es ist 18.53 Uhr. Günter Schabowski, Politbüromitglied der sozialistischen DDR-Einheitspartei SED, langweilt die internationale Journalistenmeute auf einer Pressekonferenz. Im typischen Verlautbarungs-Kauderwelsch der DDR-Politbürokratie „informiert“ er über die jüngste Krisensitzung des SED-Zentralkomitees (ZK). Nebulös redet er von Reformen. Ach ja, und da wäre auch noch eine neue Reiseverordnung.
Folgenreicher Versprecher
Die entscheidende Frage stellt der Italiener Riccardo Ehrman. Schabowskis Redeschwall dauert mehrere Minuten. Dann der Satz: „Und deshalb, äh, haben wir uns entschlossen, heute, äh, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR, äh, auszureisen.“ Ein anderer setzt nach: „Ab wann? Wann tritt das in Kraft?“ Schabowski kratzt sich. Ihm ist entfallen, dass das ZK die Regelung erst am kommenden Tag „geordnet durchführen“ lassen will. Und es folgt der folgenreichste Versprecher der jüngeren Geschichte: Verwirrt antwortet Schabowski, seines Wissens trete die Regelung „sofort, unverzüglich“ in Kraft.
Vor allem deutsche Journalisten begreifen anfangs gar nicht, was diese Worte bedeuten. Die Bewohner Ostberlins, die Schabowskis Auftritt live am Fernseher verfolgt haben, verstehen umso besser: Tausende strömen zu den Grenzübergängen. „Der Schabowski hat gesagt, wir können jetzt reisen, nun lasst uns mal durch“, rufen sie den ahnungslosen Grenzposten zu. Tumultartige Szenen spielen sich ab. An den Kontrollstellen stauen sich die Massen, die Autoschlangen der Trabanten und Wartburgs werden immer länger. Schließlich beugen sich die Grenzer an der Bornholmer Straße dem Druck: „Es ist nicht mehr zu halten“, meldet ein Oberstleutnant. Ein Untergebener ruft: „Wir fluten.“
Bürgermeister Momper erfährt das Unfassbare um 22.25 Uhr, als er gerade in einer Talkrunde des damaligen Senders Freies Berlin (SFB) sitzt: „Mein Platz ist jetzt woanders“, sagt der Regierende und verlässt das Studio Richtung Brandenburger Tor – dort tanzen die Menschen auf der Mauer. In diesen Tagen erlebt ganz Berlin einen euphorischen Ausnahmezustand. Millionen Menschen strömen aus allen Himmelsrichtungen in die Hauptstadt. Sie sind fassungslos und besoffen vor Freude.
In Berlin ereignet sich Weltgeschichte
Vorgärten werden zu Parkplätzen, Ausfallstraßen zu Fußgängerzonen. Übernachtet wird bei Wildfremden, und überall gibt es Blumen und Sekt. Uns treibt es zum Brandenburger Tor, zum Potsdamer Platz, dann in die Bernauer Straße im Wedding und auch auf den Ku’damm. Ein Trabi-Fahrer kurbelt die Scheibe runter und ruft winkenden Passanten zu: „Ick fass’ mir pausenlos an’ Kopp. Ick fahr’ mit der Karre übern Kurfürstendamm.“ Hunderte Zweitakter verstopfen und verstänkern den ganzen Ku’damm – statt Genörgel ernten sie Szenenapplaus. Westberliner Taxifahrer chauffieren Ostgäste gratis durch die Stadt, zum Dank gibt es Bussis. Geschäfte, Kneipen, Restaurants haben rund um die Uhr geöffnet. Vor Banken bilden sich Menschenschlangen, selbst am Sonntag: Jeder „Ossi“ darf sich dort 100 Mark „Begrüßungsgeld“ zum Einkaufen abholen, Kanzler Helmut Kohl (CDU) hat das Geld locker gemacht.
Weltgeschichte hat sich in diesen Tagen in Berlin ereignet. Der Traum von Freiheit wurde wahr. Und möglich wurde er durch die friedliche Revolution der Ostdeutschen. Die Kirchen haben, so scheint es, inmitten dieses Freudentaumels nicht viel zu melden. Christen und ihre Kirchen waren in der DDR ebenso begrenzt und verstrickt wie andere gesellschaftliche Gruppen. Ihr Image im realsozialistischen Einheitsstaat war miserabel. Vor allem waren sie zahlenmäßig in der Defensive.
Doch haben vor dem Mauerfall gerade die Kirchen eine einzigartige Rolle gespielt, die ursächlich und elementar mit der christlichen Freiheits-, Friedens- und Versöhnungsbotschaft von Jesus Christus zu tun hat: Denn nicht nur in Leipzig und Berlin, sondern überall zwischen Zinnowitz und Zittau waren es mutige Pfarrer und Gemeindemitglieder, die Regimekritikern in ihren Kirchen Zuflucht gewährten. Der rabiaten Stasi-Staatsmacht setzten sie Kräfte entgegen, die transzendent wirken: Gibt es ein Mittel gegen „Friedensgebete“?
30 Jahre nach dem Mauerfall könnten im heutigen Deutschland manche Spaltungen, Wunden und Risse in den Biographien und in der Gesellschaft heilen, wenn wir aus der jüngeren Geschichte lernen. Angesichts von Brexit, Klimakrise, Flüchtlings- und Terrordebatten haben Christen auch heute nicht den Auftrag, alles besser zu wissen und die Machthebel in der Hand zu haben. Im Sinne der Bergpredigt Jesu, wie sie im Matthäus- evangelium steht, können und sollen sie „Salz“ und „Licht“ (5,13–14) sein – nicht mehr und nicht weniger. Wie damals die Christen in der DDR.
Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2019 des Christlichen Medienmagazinr pro. Sie können die pro hier bestellen.