Zu den Widersprüchen in der Politik gehört es, dass die größten Themen bisweilen die geringste Aufmerksamkeit bekommen. Ein schillerndes Beispiel dafür ist die Wahl des Europäischen Parlaments. Längst werden die wesentlichen Entscheidungen von der Europäischen Union getroffen. Von Fangquoten für die Fischerei über Urheberrecht und Datenschutz, von internationalen Handelsabkommen bis zur Abschaffung von Roaminggebühren und Wattestäbchen aus Plas-tik: Nicht Berlin, Paris und Rom haben das Sagen, sondern Brüssel und Straßburg.
Dem gegenüber steht eine Öffentlichkeit, die mit achselzuckender Gleichgültigkeit auf die Wahlen blickt. Seit der ersten Europawahl 1979 sank die Wahlbeteiligung genauso beharrlich, wie die Rolle der EU wuchs. Nicht einmal jeder zweite Deutsche ging 2014 noch an die Urne, im EU-Schnitt waren es mit 42,6 Prozent noch weniger.
Angenommen, am 26. Mai wäre keine Europa-, sondern eine Bundestagswahl, wäre die Aufmerksamkeit ungleich höher. Heerscharen von Reportern würden die Spitzenkandidaten bei ihren Tourneen durch die Stadthallen und Bierzelte der Republik begleiten, Meinungsumfragen würden fast in Echtzeit Zustimmungswerte tickern, Millionen Menschen würden bei TV-Duellen mitfiebern, während sich die kommentierende Internetgemeinde die Finger wund twittern würde.
Unbekannte Spitzenkandidaten – außer wenn sie Deutsche sind
Bei Europawahlen ist das anders. Selbst die Spitzenkandidaten sind hierzulande weitgehend unbekannt. Ausnahmen gibt es nur, wenn sie Deutsche sind – eine Tatsache, die dem europäischen Selbstverständnis komplett entgegensteht. Manfred Weber (CSU) und Ska Keller (Grüne) gehören zum Kreis der Spitzenkandidaten. Justizministerin Katarina Barley (SPD) nicht. Sie führt zwar die Sozialdemokraten an, allerdings nur die der deutschen SPD, die europaweit zur Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) gehört. Deren Spitzenkandidat ist der Niederländer Frans Timmermanns. Selbst politische Reporter kommen ins Stottern, wenn sie auch nur die vier größten der sieben Fraktionen im Europaparlament aufsagen müssen: EVP, S&D, EKR und ALDE. Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten, die Europäischen Konservativen und Reformer, zu denen die britischen Tories gehören, und die Liberalen.
Nationalismus hat wieder Konjunktur
Gleichzeitig steht die EU vor so großen Herausforderungen wie noch nie. Der Brexit hat die Illusion zerstört, die Union sei ein unauflöslicher Staatenbund. Die Schuldenkrisen in Griechenland und Italien schwelen weiter. Die Frage, ob und wie Flüchtlingen geholfen werden sollte, spaltet die EU in Nord und Süd, in Ost und West. Umfragen, sofern man sie überhaupt europaweit erfassen kann, deuten auf ein weiteres Auseinanderdriften hin. Demnach könnten Rechtspopulisten und Rechtsradikale kräftig zulegen. Blicke nach Großbritannien, Polen, Italien und Ungarn zeigen: Der Nationalismus hat wieder Konjunktur.
„Wir haben nicht gelernt, welches Unglück der Nationalismus über die Welt gebracht hat“, sagte der ehemalige CDU-Politiker Norbert Blüm im Februar in der Talkshow „3 nach 9“. Blüm erzählte von seinem Vater, der als Soldat im Sturmboot über den Rhein nach Frankreich gefahren war. Von zehn Booten kamen drei an. Das Wasser des Rheins färbte sich rot vom Blut erschossener Soldaten. „Wissen Sie, um was es ging? Es ging darum, ob der Grenzstein, dieser lächerliche Wacker, rechts von Elsass-Lothringen oder links von Elsass-Lothringen eingegraben ist.“ Blüm, 84 Jahre alt, wies darauf hin, dass niemand in Deutschland unter 74 überhaupt noch wisse, was Krieg ist – und stellte die Frage, wann es denn überhaupt schon einmal eine so lange Friedensphase gegeben habe.
Zwar sieht es im Moment – Gott sei Dank – nicht danach aus, als würden die friedlichen Zeiten bald enden. Dennoch muss es bedenklich stimmen, dass trotz einer immer stärker globalisierten Welt viele Länder nicht gemeinsame, sondern eigene Wege gehen.
Das Wahlrecht, ein Privileg
Dabei entspringt der Grundgedanke der europäischen Einigung zutiefst christlichen Werten: Versöhnung statt ewiger Feindschaft, Zusammenarbeit statt rücksichtslosem Wettbewerb, Frieden statt Machtstreben, Schutz der Schwachen und Minderheiten, Durchsetzung von Menschenrechten, nicht zuletzt der Religionsfreiheit. Als die EU 1997 die Osterweiterung beschloss, soll Helmut Kohl während eines Mittagessens vor Freude geweint haben. So berichtete es sein Freund Jean-Claude Juncker, der EU-Kommissionspräsident, bei Kohls Trauerfeier 2017. Als deutscher Bundeskanzler den Schulterschluss mit dem Osten zu vollziehen, sei für ihn einer der schönsten Augenblicke seines Lebens gewesen.
Im Jahr 2019 ist die Freude verflogen. Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn kapseln sich immer weiter ab vom Rest. Das Europäische Parlament forderte den Europäischen Rat 2018 sogar auf, gegen Ungarn ein Rechtsstaatsverfahren wegen Einschränkung der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit einzuleiten. Man wird sich fremd.
Es wäre falsch, alle Schuld für die Krise der EU nur bei den Mitgliedsstaaten zu suchen. Die Union steht heute bei vielen Menschen für den Verlust staatlicher Souveränität, für Sehnsucht nach Verboten und Richtlinienpolitik aus dem Elfenbeinturm. Freilich ist das in dieser Deutlichkeit übertrieben. Doch davon abgesehen sollten sich die Entscheidungsträger von dem Gedanken verabschieden, dass eine immer stärkere Machtverlagerung nach Brüssel die richtige Antwort auf diesen Entfremdungsprozess ist. Gerade Christen können diese Entwicklungen nicht egal sein. Neben Frieden, Freiheit und Wohlstand gibt es ein weiteres Privileg, an das sich die Menschen gewöhnt haben. Umso mehr sollten sie es in Anspruch nehmen: das Wahlrecht.
Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 2/2019 des Christlichen Medienmagazins pro. Sie können die pro hier bestellen.
Von: Nicolai Franz