Alles hat seine Zeit

Die Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel hat am Montag ihren Rückzug von der Parteispitze und aus der Politik angekündigt. Eine strategisch sinnvolle Entscheidung zum einen. Andererseits ist es auch weise, einen solchen Schritt selbstbestimmt zu gehen. Daran können sich andere ein Beispiel nehmen. Ein Leitartikel von Christoph Irion
Von PRO
Angela Merkel

Angela Merkel ist nicht gerade für ihren flotten und gewandten Umgang mit Medien und moderner Kommunikation bekannt. Am Montag gelang der Bundeskanzlerin und CDU-Chefin mit einer persönlichen Ankündigung etwas, das Medienmacher „Agenda-Setting“ nennen. Zwar beherrscht eine Kanzlerin kraft Amtes häufig die Schlagzeilen. Aber an diesem Tag war ganz Medien- und Polit-Deutschland eigentlich darauf eingestellt, das schwarz-rote Wundenlecken beziehungsweise die grüne Partystimmung nach der Hessenwahl in den Mittelpunkt zu stellen.

Doch auf allen Pressekonferenzen, in allen Kommentaren und Debatten ging es nur noch um Merkel. Sogar das von den Grünen pünktlich und in bester Laune anberaumte Presse-Briefing nach der Wahl musste anfangs ohne Journalisten auskommen – denn die Kanzlerin stahl allen die Show: Angela Merkel trat im Konrad-Adenauer-Haus vor die Mikrofone. Unaufgeregt und uneitel wie immer teilte sie der deutschen Öffentlichkeit mit, sie werde auf dem CDU-Parteitag im Dezember nach 18 Jahren an der Parteispitze nicht erneut für den Parteivorsitz kandidieren. Das Amt der Bundeskanzlerin wolle sie bis zum Ende der Wahlperiode ausüben, spätestens 2021 werde sie ihre politische Laufbahn beenden, sagte die 64-Jährige, die seit 2005 Regierungschefin ist.

Anerkennung für die Entscheidung

Nun ist es also offiziell eingeläutet: das Ende der Ära Merkel. Die scheidende CDU-Vorsitzende und Noch-Kanzlerin macht keinen Hehl daraus: Die bislang völlig verunglückte Performance der aktuellen Bundesregierung, der schlimme Ansehensverlust und die dramatischen Stimmeneinbußen der einst großen Parteien bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen zwingen zum Umdenken.

Und doch könnte bei dieser Kanzlerin-Dämmerung etwas Wesentliches völlig anders laufen, als es sonst üblich ist, wenn Trägern hoher Ämter – meist sind es Männer – der Machtverlust droht. Während viele langjährige Politiker, Wirtschaftsbosse, Behördenchefs und Spitzenvertreter kirchlicher Einrichtungen oder Gewerkschaften oft warten, bis sie „rausgetragen“ werden, hat Kanzlerin Angela Merkel persönlich und noch immer völlig selbstbestimmt die Initiative für ihren Ausstieg ergriffen und einen Plan dafür vorgelegt. Selbst wenn dieser Plan auf mittlere Sicht nicht aufgehen sollte, verdient dieser Schritt höchsten Respekt und Anerkennung – genau dies beherrscht die meisten Stellungnahmen selbst von politischen Gegnern.

Mehr noch: Die Nachrichtenlage nach der für CDU und SPD desaströsen Hessenwahl war von eher positiven Deutungen im Hinblick auf die nun eingeleitete Verjüngung und Erneuerung der CDU bestimmt. Volker Bouffier, dem direkt neben Merkel stehenden, schwer gebeutelten Gewinner-Verlierer der Hessenwahl, wird es gar nicht unrecht gewesen sein, dass er an diesem Tag völlig zur Randfigur wurde.

Die Zeit-Perspektive im Blick

Wer die Politikerin Angela Merkel seit Jahren beobachtet, wird es durchaus für glaubwürdig halten, wenn sie sagt, sie habe sich zu diesem Rückzug bereits im vorigen Sommer entschlossen. Die Pfarrerstochter aus der Uckermark hat sich immer wieder zu ihrer christlichen und protestantischen Prägung bekannt. „Alles hat seine Zeit“ – diese ewige Weisheit aus dem rund 2.350 Jahre alten biblischen Buch Kohelet, dürfte – bewusst oder unbewusst – für die Kanzlerin inmitten hektischer, hitziger, aufgeregter, Zeiten ein wertvoller persönlicher Ratgeber gewesen sein, als sie über ihre Ämteraufgabe nachdachte. Es ist gut, wenn Verantwortungsträger zumal in hohen Wahlämtern auch heute noch diese Zeit-Perspektive im Blick haben. Das Beispiel Volker Kauder, der vor wenigen Wochen als Unions-Fraktionschef abgewählt wurde, zeigt, dass auch bekennende Christen nicht davor gefeit sind, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen.

Ob Merkels selbstbestimmter, doppelter Ausstiegsplan gelingt, ist freilich völlig offen. Anders als es die Linken und FDP-Chef Christian Lindner behaupten, ist es aber durchaus möglich, über eine längere Zeit das Kanzleramt erfolgreich zu führen, ohne Parteichef zu sein: Die Liberalen selbst waren 1974 bis 1982 Regierungspartner eines Kanzlers ohne Spitzenamt in der Partei: Helmut Schmidt (SPD) war nie Parteichef.

Demokratische Parteien dürfen Potenziale Deutschlands nicht verspielen

Es deutet einiges darauf hin, dass es der scheidenden CDU-Chefin mit ihrer Entscheidung nicht nur persönlich, sondern zugleich auch parteitaktisch gelingen könnte, einen positiven Veränderungsprozess anzustoßen. Damit erhöht sich allerdings in der bayerischen Schwesterpartei CSU gleichzeitig der Druck auf den angeschlagenen Parteichef Horst Seehofer (69). Und für die SPD und ihre erst seit 2018 amtierende Parteichefin Andrea Nahles könnte sich die Lage sogar weiter verschlimmern: Die einst so stolzen Sozialdemokraten sind politisch-strategisch derzeit kaum noch handlungsfähig. Um überhaupt politisch zu überleben, müssen sie sich an den Machterhalt in der ungeliebten Großen Koalition klammern – doch anders als Merkels CDU fehlt der SPD derzeit die Perspektive für einen echten, sichtbaren Neuanfang. Thematisch-inhaltlich droht die einstige Klassenkämpfer- und traditionelle Sozial- und Solidaritätspartei auf beiden Seiten von den in der Mitte der Gesellschaft angekommenen Grünen überholt zu werden.

Was in diesen Tagen fast alle politischen Kommentatoren und viele Politiker bei ihren Bewertungen und Planungen kaum berücksichtigen: In Hessen waren in absoluten Zahlen nicht die Grünen Hauptgewinner der Wahlen, sondern mal wieder die AfD. Die Rechtspopulisten sitzen jetzt im Bundestag, im Europäischen Parlament und in allen Landesparlamenten, oft als drittstärkste Kraft. Wer verantwortlich zukunftsweisende demokratische Politik in Deutschland gestalten will, darf nicht nur eigene Wunden lecken und stets die anderen Parteien für Pannen, Peinlichkeiten und Probleme an den Pranger stellen.

Gerade die bisherigen Volksparteien müssen sich selbstkritisch fragen, wie es wieder gelingen kann, auch Themen in den Bereichen Familie, Bildung, Gesellschaft und Ethik so zu besetzen, dass wieder mehr Menschen den bewährten demokratischen Kräften vertrauen. Deutschland ist nach 13 Jahren Regierung Merkel noch immer ein Land mit gewaltigen Potenzialen und Möglichkeiten, um die uns viele beneiden, ein Land, in dem noch immer vieles gut funktioniert. Das dürfen unsere gewählten Politiker nicht verspielen.

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