Angela Merkel und Horst Seehofer haben sich geeinigt, heißt es am Dienstag. Der Streit um die Asylpolitik der Union ist beigelegt – scheinbar zumindest. Vorangegangen ist ein erbitterter Streit um das Amt des Innenministers und sogar das der Kanzlerin. Beide hätten ihre Posten verlieren können, die Union ihr Gesicht und Deutschland seine Regierung. Das alles spielte sich vor den Augen der Öffentlichkeit ab. Seehofer informierte die Medien über seine Rücktrittsgedanken, ein direktes Gespräch von Angesicht zu Angesicht mit der Kanzlerin folgte erst einen Tag später. „Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Tage zuvor soll er bereits in kleiner CSU-Runde erklärt haben: „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten.“
Aus Sätzen wie diesen spricht Frustration, Verletzung – und vielleicht der Wille zur Provokation. Die Kanzlerin selbst hielt sich gewohnt zurück. Spurlos werden die harten Sätze ihres Ministers nicht an ihr vorübergegangen sein. Nicht nur Journalisten des Spiegel gingen fest davon aus, dass Seehofer sein Amt nicht werde halten können, selbst wenn er sich dazu entscheide, es zu wollen. Nun, einige Stunden später, ist klar: Beide haben ihre Positionen vorerst gesichert. Aber Glaubwürdigkeit gelassen.
Am Montag war es ausgerechnet der ehemalige SPD-Chef und Außenminister Sigmar Gabriel, der Kritik an dem Streit äußerte. Der CSU warf er vor, Politik als reines Ränke- und Machtspiel zu betreiben. Er twitterte: „Wer so handelt, verspielt jedwedes Vertrauen der Bürger in unser politisches System. Man kann vor Zorn über diese Verantwortungslosigkeit nur rufen: #Aufhören!“ Auch sein Kollege Martin Schulz äußerte sich und sprach von „Durchgeknallten“ in der Union. Es scheint, als hätten beide vergessen, dass sie selbst vor wenigen Monaten ein ähnliches Machtspiel austrugen.
„Man bekommt Wunden mit, aber die Zeit wird sie heilen“
Im Februar endete die Freundschaft zwischen Martin Schulz und Sigmar Gabriel mit einem Paukenschlag. Der damalige Noch-Außenminister ließ seinen politischen Weggefährten über die Medien wissen, dass seine Tochter es mehr schätzt, wenn der Papa Zeit mit der Familie verbringt, als mit dem „Mann mit den Haaren im Gesicht“. Vorangegangen war Schulz’ Erklärung, er wolle das Amt Gabriels übernehmen – laut Letzterem und vielen anderen ein schwerer Wortbruch, denn Gabriel selbst wäre gerne Außenminister geblieben und Schulz hatte ihm dies wohl auch zugesagt.
Die Causa Gabriel-Schulz war nicht nur deshalb ein Skandal, weil Deutschlands höchster Diplomat seine Tochter vorschickte, um einen Konkurrenten zu demütigen, oder weil einer, der mal Kanzler werden wollte, sich offensichtlich selbst ein Amt zuschaufelte. Sondern auch, weil die SPD sich im Prozess der Regierungsbildung mit der Union befand und Personalstreitigkeiten sich vor der Basis-Abstimmung über eine Große Koalition eigentlich verboten hätten. Zu fragil war die Lage der Sozialdemokraten. Wäre es statt zur Regierungsbildung zu Neuwahlen gekommen, hätte die AfD ihnen wohl den Rang als zweitstärkste Partei abgelaufen.
Doch dank verletzter Gefühle, Eigennutz und einer Überdosis Testosterons wurde Deutschland Zeuge davon, wie sich zwei ehemalige SPD-Hoffnungsträger öffentlich zersägten und sich nicht nur gegenseitig, sondern auch ihre Partei mit in den Abgrund rissen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Schulz zu Gabriels Vorwürfen schwieg und Gabriel sich seinerseits wenige Tage später beim Kollegen entschuldigte. Beide hat das Zerwürfnis nicht nur die Freundschaft, sondern auch das Amt gekostet.
Es war die Eskalation eines jahrelangen Kampfes der zwei Männer um politische Posten: Beide wollten Spitzenkandidaten der SPD im Wahlkampf werden – Gabriel ließ Schulz damals den Vortritt und dieser scheiterte bei der Bundestagswahl. Beide wollten ihre Partei führen – am Ende ging der Vorsitz an Andrea Nahles. Und beide wollten Außenminister unter Angela Merkel sein. Geworden ist es Heiko Maas. Nun stehen sie vor den Überresten ihrer Laufbahn. Am 13. Februar erklärte Schulz seinen Rücktritt als Vorsitzender der SPD. Immer wieder stockte ihm die Stimme, als er sagte, er scheide ohne Bitterkeit aus dem Amt. „Natürlich bekommt man Wunden mit, aber die Zeit wird sie heilen“, sagte Schulz und bemühte sich mit einem knappen Schulterzucken um den Anschein von Lässigkeit. Dabei war nicht nur Politikinsidern nach seinem Auftritt klar: Dieser ehemalige EU-Parlamentspräsident hat – zumindest beruflich – alles verloren. Ebenso wie Sigmar Gabriel, immerhin ein ehemaliger Vizekanzler. Geblieben ist den einstigen SPD-Aushängeschildern ihr Bundestagsmandat. Aussichten auf politische Ämter haben beide nicht mehr.
Noch im Februar wandte sich Schulz’ Schwester Doris Harst erbost an die Öffentlichkeit: Die SPD habe sich im Umgang mit ihrem Bruder als „echte Schlangengrube“ erwiesen, sagte die Sozialdemokratin der Zeitung Welt am Sonntag. Die Parteikollegen hätten ihn „zum Sündenbock für alles“ gemacht. „Mein Bruder ist nur belogen und betrogen worden“, sagte sie. Die Politik – eine Schlangengrube? Ist das nicht ein böses Klischee? Andererseits: Kann es Freundschaften und Vertrauen geben in einer Sphäre der ständigen Konkurrenz um Posten und Mandate? Beispiele für Hahnen- und Hennenkämpfe gibt und gab es viele und quer durch alle Parteien: Merkel und Seehofer, Seehofer und Markus Söder, Bernd Lucke und Frauke Petry, Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann.
Streit um Spitzenposten muss nicht eskalieren
„Das ist schon krass“, sagt Konstantin von Notz, Vizefraktionschef der Grünen im Bundestag. pro trifft ihn Anfang März in seinem Bundestagsbüro und bittet ihn um eine Einschätzung des Falles Schulz-Gabriel. „Wenn es in der Politik um diesen höchsten Posten geht, ist die Mechanik auch mal grausam und kann einen das Amt kosten“, kommentiert er. Der 47-jährige Protestant ist davon überzeugt, dass gerade Berufspolitiker Orte brauchen, wo sie sich frei äußern und Ideen bewegen können, ohne Sorge haben zu müssen, dass es am nächsten Tag in der Zeitung oder in der Fraktionssitzung des politischen Gegners besprochen wird. „Man braucht Menschen, denen man voll vertraut. Ansonsten wird man einsam und das Leben schrecklich.“
Er spricht aus Erfahrung. Seit 17 Jahren verbindet ihn eine enge Freundschaft mit dem Vorsitzenden seiner Partei, Robert Habeck. Gemeinsam haben sie in den 2000er Jahren ihren Landesverband Schleswig-Holstein neu aufgestellt. 2009 zieht von Notz über die Landesliste in den Bundestag ein und macht sich dort rasch als Netzpolitiker einen Namen. Habeck seinerseits wird 2012 Landwirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Schleswig-Holstein. Der Tagesspiegel berichtet von der engen Verbindung der aufstrebenden Männer: „Sie stoßen zu Silvester um Mitternacht miteinander an, sie telefonieren in ihrer Freizeit und schmieden gemeinsam politische Pläne. Sie glauben an die Freundschaft, es soll kein Zweckbündnis sein.“ 2015 ändern sich die Dinge. Habeck will Spitzenkandidat der Grünen im Bund werden. Für ihn würde das außerdem bedeuten, dass der Landesverband ihm bei den Bundestagswahlen den Landeslistenplatz zwei und damit den Einzug in den Bundestag überließe: Von Notz wäre damit raus.
„Es war eine Zeitlang eine zweifellos harte Situation. Wir haben aber versucht, trotz allem klar miteinander umzugehen, und das ist uns auch gelungen“, sagt von Notz heute dazu. Doch die Situation zwischen den Freunden ist auch nicht eskaliert. Habeck verliert bei der Urwahl der Bundestagsspitzenkandidaten gegen Cem Özdemir. Seit Januar ist er Vorsitzender seiner Partei – und hat vorerst kein Bundestagsmandat inne.
„Natürlich gibt es auch mal harte Konkurrenzen“, räumt von Notz ein. Es sei wie im Sport. „Ich kann mir meinen politischen Werdegang ohne echte Freundschaften und Allianzen nicht vorstellen“, sagt er. Trotz mancher Enttäuschung. Hat er einen sicheren Ort? Ja, da, wo er Menschen vertraue, antwortet er. Politische Weggefährten, Familie, Freunde. „Man braucht Menschen, die einen selbst kritisch spiegeln und einem auch mal Ratschläge geben, was man tun und was man lieber lassen sollte“, sagt er.
Oft sind das bei Spitzenpolitikern die Büroleiter, enge Vertraute, die ihre Chefs jahrelang begleiten und nicht selten mit ihnen die Karriereleiter hinaufsteigen. Bei Angela Merkel ist das Beate Baumann. Sie arbeitet seit über 25 Jahren für die heutige Kanzlerin. Andrea Nahles hat Lena Daldrup, Stephan Steinlein zieht die Strippen für Frank-Walter Steinmeier. Sie setzen die Termine der Staatsmänner und -frauen, entscheiden, welchem Medium Interviews gewährt werden, und geben Tipps, welche Themen dort am besten zur Sprache kommen sollten und welche nicht. Wo in den hohen Sphären der Politik die Luft dünn wird, reichen sie den Sauerstoff.
Das Gebet als sicherer Ort
Das Büro des CDU-Abgeordneten Frank Heinrich dominiert eine große Weltkarte. Im Vorzimmer hängen Fotos von glücklichen Eltern mit kleinen Kindern, Schnappschüsse fröhlicher Menschen bei Ausflügen, Bilder von Mitarbeitern, Freunden und das ein oder andere Foto des Politikers selbst. Was gibt ihm Halt, wenn es im Beruf hart zugeht? Die Sehnsucht nach der Ferne? Die Erinnerungen an die Beziehungen in der Heimat? Oder ist es der Glaube des ehemaligen Heilsarmeeoffiziers?
Sein sicherer Ort sei das Gebetsfrühstück, das Abgeordnete verschiedener Fraktionen in jeder Sitzungswoche organisieren. „Da geht es nicht in erster Linie um die Inhalte der Andachten, sondern dort treffe ich Gleichgesinnte“, sagt Heinrich, und weiter: „Da kann ich loswettern, ohne dass es mir jemand aufs Brot schmiert.“ Denn ja, es könne auch haarig zugehen in der Politik. Meistens sei das dann wie bei den Olympischen Spielen: Die Sportler kämpften bis aufs Messer, lägen sich hinter der Ziellinie aber in den Armen.
Doch auch Heinrich kennt es, wenn Menschen, mit denen ihn etwas verbunden hat, zu Konkurrenten werden. In seinem Chemnitzer Wahlkreis hat er bei der vergangenen Bundestagswahl knapp das Direktmandat gewonnen, das ihm seinen Sitz im Parlament sicherte. Nico Köhler erhielt nur 2,5 Prozentpunkte weniger. Dabei war er lange Zeit ein Parteikollege Heinrichs – bis er anderthalb Jahre vor der Wahl zur AfD wechselte. Am Ende machten nur 3.500 Stimmen im Wahlkreis den Unterschied und das Ergebnis stand erst nach Auszählung der Briefwahl fest, also spät am Abend. Heinrich musste zittern, Köhler stellte die Wahl öffentlich in Frage. Das sei für ihn schwierig gewesen, sagt Heinrich.
„Wir waren nie sehr eng miteinander, aber es war auch nie ein schlechtes Verhältnis“, erinnert er sich an die gemeinsame Zeit in der CDU. Andererseits seien Verwerfungen wie diese in der Politik nicht ungewöhnlich. Akzeptieren kann er das, auch als Christ. „Das Liebesgebot nehme ich sehr ernst. Es bedeutet für mich aber nicht, dass ich diese Person besonders mögen muss. Sondern es heißt, dass ich mich an biblische Prinzipien von Fairness halte – also etwa offen und ehrlich mit Menschen zu sprechen und nicht hinter deren Rücken.“
Tatsächlich ist das Gebetsfrühstück, das Heinrich so schätzt, nicht der einzige Ort, an dem Christen im Deutschen Bundestag ihren Glauben gemeinsam ausleben und so auch etwas Ruhe im parlamentarischen Trubel finden können. Im eigens eingerichteten Andachtsraum des Deutschen Bundestages organisieren die politischen Büros von Katholischer und Evangelischer Kirche in Berlin regelmäßig Andachten. In Zukunft wird sich auch der Beauftragte der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, Peter Jörgensen, daran beteiligen. Auch Abgeordnete halten Andachten. Ein bis zwei Dutzend von ihnen nehmen regelmäßig auf den hohen und harten Holzstühlen im Raum gleich neben dem Plenarsaal Platz. Norbert Lammert soll einmal gesagt haben, der fromme Rückzugsort sei nicht umsonst auf Höhe des Plenarsaals, denn die Orientierung der Parlamentarier speise sich neben der Kultur ebenso aus der Religion.
Fünf übergroße Kunstwerke sind der einzige Schmuck des Andachtsraums: Abstrakte Werke des Künstlers Günther Uecker. Eines zeigt ein angedeutetes Kreuz aus Nägeln, ein anderes Metallspitzen, die sich durch Holz bohren. Ein Kantor begleitet die kurze christliche Morgenfeier an der Orgel, die Christen singen, beten und lauschen einer achtminütigen Ansprache. Mehr Zeit bleibt nicht, bevor die Parlamentarier um kurz vor neun den Weg in den Plenarsaal antreten sollen. „Aber was Sie in acht Minuten nicht sagen können, können Sie auch in dreißig nicht sagen“, erklärt Joachim Ochel, Referent im Berliner Büro der Evangelischen Kirche, der an diesem Morgen die Andacht hält. Darin geht es um das Weizenkorn aus dem Johannesevangelium, das in der Erde erstirbt und daraufhin Frucht bringt. Bei seinen Worten denkt man automatisch an all diejenigen Politiker, die zumindest in der neuen Regierung keine Frucht mehr bringen dürfen: Sigmar Gabriel, Hermann Gröhe, Thomas de Maizière. „Im Inner Circle der Macht geht es hart zu“, sagt Ochel. Die Kirche biete einen Ort mitten im politischen Betrieb, „wo Abgeordnete nicht als Funktionsträger angesehen werden, sondern ganz Mensch sein können“.
Glockengeläut unterbricht den politischen Alltag
Den Beginn der Veranstaltungen an Donnerstagen und Freitagen der Sitzungswochen kündigen die Kirchenglocken des Kölner Doms an. Über Lautsprecher ist das Geläut von Band im ganzen Reichstagsgebäude zu hören – ebenso wie der Alarm, der Abgeordnete zu Abstimmungen ins Plenum ruft. Gerüchten zufolge sind die Signale schon verwechselt worden, sodass statt dem schrillen Ruf zur Urne plötzlich Glocken erklangen. Ein schönes Bild für das, was Ochel eine „heilsame Unterbrechung“ nennt. Eine solche soll auch der Besuch im Andachtsraum bieten. „Das ist unsere Gemeinde hier“, sagt Ochel, der den Politikern auch seelsorgerlich zur Seite steht. Oft seien das nur kurze Gespräche zwischen zwei Terminen. Doch selbst das sei viel wert, denn die Kirche biete etwas, das im Rampenlicht der großen Politik selten sei: Einen sicheren Ort der Verschwiegenheit.
Dieser Artikel ist bereits gedruckt in der Ausgabe 2/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie die pro kostenlos hier.
Von: Anna Lutz