pro: Herr Kober, bei Facebook gibt es ein Foto von Ihnen, im Teenageralter mit blauen und einseitig abrasierten Haaren – sagen Sie bloß, Sie waren mal ein Linker?
Pascal Kober: (schmunzelt) Da muss ich korrigieren, die Haare waren nur vorne wasserstoffblond und kinnlang, rundherum waren sie abrasiert. Ich sah aus wie ein Punk. Es ging mir aber damals weniger um eine politisch linke Einstellung als darum, durch mein Aussehen mein Streben nach Individualität, vielleicht sogar Anarchie, zu betonen. Und schon sind wir sehr nahe am Liberalismus. Die linke politische Philosophie hebt die Gemeinschaft über das Individuum, das ist das Gegenteil davon. Insofern war ich nicht klassisch links. Ich wollte damals die Welt besser machen, soziale Gerechtigkeit erreichen, so wie viele Jugendliche. Dabei habe ich mich in der Musikkultur des Punk wiedergefunden – später ging es bei mir eher in Richtung Reggae. Übrigens war mein Streben nach einer besseren Welt auch der Grund, warum ich Pfarrer wurde – ich habe auf die revolutionäre Kraft der Predigt vertraut.
Ein evangelischer Pfarrer in der FDP – gehören Sie nicht eher in die SPD? Da zumindest tummelt sich ein Großteil Ihrer Berufskollegen, wie die Liste der bisherigen EKD-Ratsvorsitzenden eindrücklich belegt.
Ich war tatsächlich einmal SPD-Wähler und komme aus einem sozialdemokratischen Elternhaus. Heute muss ich etwas keck sagen: Die SPD zu unterstützen war – theologisch und politisch betrachtet – ein Irrtum. Wobei ich natürlich niemals behaupten würde, dass ein Christ nicht auch in der SPD sein kann – oder bei den Grünen oder in der CDU. Aber ich glaube schon, dass die liberale politische Philosophie dem lutherischen Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Kirche am ehesten entspricht.
Das müssen Sie uns erklären …
Luther hat sehr deutlich herausgearbeitet, dass es nicht Aufgabe des Staates ist, das Evangelium mit dem Mittel des Schwertes, also des Gesetzes, durchzusetzen. Der Staat hat eine ordnende Funktion für alle – Christen wie Nichtchristen. Die christliche Prägung der Gesellschaft ist Aufgabe der Kirche. Das führt zu einem liberalen Staat-Kirche-Verständnis. Linke politische Richtungen haben, pointiert gesagt, zudem immer die Tendenz, den Menschen nach ihrem Bilde zu formen. Das Individuum soll im Ganzen aufgehen, sich dem höheren Wohl unterordnen. Also hat der Staat in dieser Philosophie die Aufgabe, Herzen zu bilden, um einmal christlich zu sprechen. Da stehen mir als Erzlutheraner die Haare zu Berge. Deshalb gibt es aus meiner Sicht immer ein Spannungsverhältnis zwischen linker Politik und einer protestantischen Überzeugung. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass das staatliche soziale Netz so eng geknüpft werden kann, dass niemand mehr durchfällt. Ich bin in die Politik gegangen, um den „Armen und Entrechteten“ zu helfen. Viele von ihnen werden vom Sozialstaat zurückgelassen, weil es für ihre individuelle Not kein Antragsformular gibt. Wenn jeder mehr Verantwortung für seinen Nächsten übernähme, statt die persönliche Verantwortung allein an ein bürokratisches System zu delegieren, wäre unsere Gesellschaft lebenswerter.
Nachdem Sie 2013 mit Ihrer Partei aus dem Bundestag ausschieden, wurden Sie Militärseelsorger. Unter anderem waren Sie mit den Truppen in Mali stationiert. Einige Kollegen aus Ihrer Kirche träumen von Entmilitarisierung statt weltweiten Bundeswehreinsätzen.
Die Kirche hat sich dazu entschieden, sich in der Militärseelsorge zu engagieren. Es ist ein Dienst der Kirche, für den ich mich daher in der Gemeinschaft der Ordinierten nicht rechtfertigen müsste. Meine persönliche Motivation dazu kam durch meine Arbeit im Menschenrechtsausschuss. Als Abgeordneter war ich zu Besuch in Afghanistan. Das war das erste Mal, dass ich näher mit Soldaten in Kontakt war, da ich selbst keinen Wehrdienst geleistet habe. Die Gespräche mit den Soldaten in Afghanistan haben mich damals sehr beeindruckt, auch weil ich wusste, dass sie nur deshalb im Land waren, weil unter anderem ich im Bundestag für die Verlängerung des Afghanistaneinsatzes gestimmt hatte.
Hatten Sie ein schlechtes Gewissen?
Nein, ich war davon überzeugt, dass es gut war, dass diese Soldaten in Afghanistan dienten. Aber ich habe auch begriffen, welche Belastungen das für den Einzelnen mit sich bringt und was das für deren Familien bedeutet. Als ich von dieser Reise zurückkam, habe ich meinen Mitarbeitern im Büro gesagt: Wenn ich einmal aus der Politik ausscheide, werde ich Militärseelsorger. Im Rückblick kann ich nur sagen: Der liebe Gott hat es so gefügt, dass ich tatsächlich die Chance dazu bekam und eine passende Stelle frei war, als ich danach suchte.
Sollten Christen an der Waffe dienen?
Ja. Natürlich muss nicht jeder zur Waffe greifen. Aber es gibt eine christliche Verpflichtung, willkürliches, gesetzeswidriges Töten nicht zuzulassen. Als Christen wissen wir, dass es eine Welt ohne Gewalt nicht geben kann, ob in individuellen Beziehungen oder im größeren Kontext gesellschaftlicher Konflikte. Weil der Mensch Sünder und Gerechter zugleich und zur Gewalt fähig ist. Es gibt leider Situationen, in denen Menschen Gewalt nur mit Gegengewalt eindämmen können. Wir brauchen also Soldaten oder Polizisten, die bereit sind, diesen Dienst zu übernehmen. Ich bin froh, dass es Christen gibt, die das tun. Denn nichts würde besser, wenn es nur Nichtchristen wären.
Sie haben einmal über Margot Käßmann und ihren Wunsch nach Pazifismus gesagt, ihre Thesen hätten „die theologische Aussagekraft einer Palmenstrandtapete, vor der man sitzend sich aus der Realität hinausträumt“.
Im Grundkurs Theologie lernen Sie: Wir bauen am Reich Gottes mit, aber wir vollenden es nicht. Gott vollendet es. Das ist der Unterschied zwischen dem Reich Gottes und einer Utopie. Solange die Welt nicht von Gott erlöst ist, wird es also immer Gewalt zwischen Menschen geben – Pazifismus hin oder her. Wenn Frau Käßmann das ausblendet, dann sagt sie, wir können mit den eigenen Händen das Reich Gottes bauen. Das ist theologisch falsch. Und damit skizziert sie eine andere Wirklichkeit, eine Palmenstrandtapete, deren Zweck es ist, sich wegzuträumen von der Realität, grauen Wänden und billigem Laminat, hin zur Südseeinsel und Sonnenschein. Was ich hier sage ist Standardtheologie. Deshalb denke ich, Frau Käßmann weiß im Grunde, dass ich da Recht habe.
Die Evangelische Kirche beschreibt ihre Haltung zur Bundeswehr als kritisch-solidarisch. Wo sind Sie selbst kritisch mit unserer Armee?
Kritisch-solidarisch beschreibt das Verhältnis sehr treffend. Als Militärseelsorger sind wir unabhängig und es gibt ein grundsätzlich kritisches Potenzial der Kirche in der Bundeswehr. Als Christen versuchen wir, den Einzelnen so anzusehen, wie Gott ihn sieht. Das System Bundeswehr hingegen sieht den Einzelnen nicht. Er tritt zurück und muss sich dem Gesamtzusammenhang unterordnen. Wenn es einem Soldaten also schlecht geht, dann würde ich als Militärseelsorger sagen: Der muss nach Hause. Die Bundeswehr würde unter Umständen sagen: Der muss bleiben.
Worunter leiden deutsche Soldaten besonders?
Rein quantitativ geht es am häufigsten um die Familie zu Hause. Da gibt es alles, Freudiges wie Trauriges: Soldaten, die im Ausland erfahren, dass sie Vater werden etwa. Oder zu Hause passiert ein Unfall. Streit, der durch die eingeschränkte Kommunikation nach Hause entsteht. Eine große Rolle spielt dabei, dass die Lebenswirklichkeit der Soldaten sich so sehr von der der Familie unterscheidet. Stellen Sie sich vor, ein Soldat in Mali ruft schwitzend bei 50 Grad Außentemperatur und nach einer Zwölf-Stunden-Schicht seine Frau an und diese erzählt ihm, dass der Sohn die Winterjacke in der Schule vergessen hat und sie nun nicht mehr auffindbar ist. Das ist ihr wichtig und beschäftigt sie. Der Soldat hingegen denkt vielleicht: Mit dem Auslandsverwendungszuschlag können wir drei neue Jacken am Tag kaufen, wo ist das Problem? So kann schnell Streit entstehen und der ist oft erst 24 Stunden später zu klären, weil die Verbindungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Natürlich haben Soldaten aber auch mit anderen Problemen zu kämpfen. Sie müssen sich mit dem Leid der Bevölkerung vor Ort auseinandersetzen, sehen Kinder, die nichts haben, weder Jacken noch Schuhe, sie sind mit Gewalt konfrontiert und müssen diese Gewalterfahrungen bewältigen.
Bei Ihrem Einsatz in Mali haben Sie das Leben in einem muslimischen Land und auch den Islamismus hautnah kennengelernt. Teilen Sie die Bedenken von Menschen, die heute in Deutschland eine Islamisierung befürchten?
Angst vor islamistischen Terroristen, von denen auch die Menschen in Mali bedroht sind, kann ich nachvollziehen. Ich glaube, dass es eine realistische Gefahr auch in Deutschland gibt. Dennoch kann man das nicht vergleichen. Die Islamisten in Mali fahren mit Pickups durch die Gegend und schießen mit Maschinengewehren. In Deutschland agieren Terroristen im Geheimen. Wir müssen also sachlich bleiben, dürfen die Dinge nicht vermischen, die jeweils notwendigen Sicherheitsmaßnahmen treffen und sollten auf die Kraft der nüchtern geführten öffentlichen Debatte vertrauen. Nüchterne und sachliche Aufklärung sollte dominieren und nicht falsche Ängste und Vorurteile.
In ihrem Programm führt die FDP einige Forderungen auf, die viele Christen wohl entschieden ablehnen dürften. Uns interessiert, was Sie als evangelischer Pfarrer und FDP-Politiker dazu sagen. Beginnen wir mit der Forderung nach einem Adoptionsrecht für Schwule und Lesben.
Das geht für mich in Ordnung. Entscheidend ist, ob das Kind geliebt wird, das Geschlecht der Eltern spielt keine Rolle dabei, ob ein Kind behütet aufwächst.
Die FDP trat auch für die „Ehe für alle“ ein.
Da frage ich wieder ganz lutherisch: Ist der Staat dazu da, eine bestimmte religiöse Vorstellung per Gesetz durchzusetzen? Es ist nicht Aufgabe des Staates, eine christliche Sexualmoral oder ein christliches Eheverständnis per Gesetz zu erzwingen. Es ist stattdessen Aufgabe der Kirchen und Religionsgemeinschaften, für ihren Glauben zu überzeugen. Ich persönlich habe allerdings wie viele andere theologisch nichts gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften einzuwenden. Und übrigens: Für Luther war die Ehe ein „weltlich Ding“.
Die FDP möchte das Verkaufsverbot an Sonn- und Feiertagen auflösen.
Als liberaler Politiker und lutherischer Theologe sage ich: Es gibt einen Sonntagsschutz, den würde ich auch unterstreichen. Aber der gilt ja heute nicht vollumfänglich. Bestimmte Branchen arbeiten auch am Sonntag, um anderen die Arbeitsruhe und seelische Erhebung zu ermöglichen. Ich zweifle, ob der Staat sich das Recht herausnehmen kann, das relativ sinnbefreite Achterbahnfahren in einem Freizeitpark als Möglichkeit der „seelischen Erhebung“ zu gestatten, nicht aber den Stadtbummel, den viele Menschen als entspannend empfinden. Konsequenterweise müsste der Staat dann im Übrigen auch die Internetleitungen kappen, damit niemand mehr sonntags online einkaufen kann. Ich würde sagen: Die christliche Welt geht nicht unter davon, dass Menschen sonntags einkaufen. Von uns Christen würde ich mir wünschen, dass wir wieder mehr für unsere Deutung dessen werben, was „seelische Erhebung“ alles sein könnte, statt Christen wie Nichtchristen zu erklären, dass es Einkaufen nicht ist.
Die FDP möchte die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft legalisieren.
Das berührt eine sehr intime Entscheidung von Menschen, die einem Kind, das ohne Zweifel von Gott geliebt werden wird, wie jedes andere Kind auch, zum Leben verhelfen wollen. Für mich ist entscheidend bei all diesen Fragen, dass wir nicht Menschen machen in dem Sinn, dass wir wertende Entscheidungen über ihre genetischen Anlagen treffen. Deshalb lehne ich die Präimplantationsdiagnostik ab, die genau das tut: Menschen nach ihren Genen zu sortieren.
Gegner würden kontern, dass bei der Leihmutterschaft Frauen instrumentalisiert werden …
Deshalb dürfte es keinen materiellen Vorteil für die Leihmutter geben. Niemand darf instrumentalisiert werden und es muss sich immer um eine freie Entscheidung aus Liebe zu einem Kind handeln. Aber letztlich kann die genauen Motive der Person der Staat niemals erfassen. Gewissensprüfungen staatlicherseits halte ich für falsch.
Ihre Partei möchte die Kirchen mit islamischen Religionsgemeinschaften und auch mit nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften gleichstellen.
Der Staat darf keine Religionsgemeinschaft bevorzugen. Das wäre das Aufgeben der Glaubensfreiheit.
Können Gruppierungen wie etwa der Humanistische Verband oder auch muslimische Organisationen also in gleicher Weise zum Gemeinwohl beitragen, wie etwa die Kirchen es tun?
Sehen Sie sich doch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter an: Geholfen hat da eben nicht der Christ dem Christ, sondern der Samariter dem Juden. Wenn mir einer aufhilft, dann frage ich ihn nicht nach seiner Weltanschauung. Im Übrigen sind die Kirchen in meinen Augen in keiner Weise privilegiert. Sie nutzen nur Rechte, die jeder Religionsgemeinschaft zustehen, nehmen Sie etwa das Erteilen von Religionsunterricht. Den können auch Muslime geben, die Frage ist eher, ob sie es organisieren können. Ich sehe keine faktische Benachteiligung, auch übrigens nicht bei den Humanisten. Deren Lebensaufgabe scheint es ja eher zu sein, Christen das Leben schwer zu machen, als zum Gemeinwohl beizutragen.
Herr Kober, vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe 1/2018 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.
Die Fragen stellte Anna Lutz