Kyrill I. ist begeistert. Kurz vor der Präsidentschaftswahl 2012 bricht es aus dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche heraus: Ein „Wunder Gottes“ sei Wladimir Putin, jener Mann, der Russland seit 2000 als Präsident nahezu ununterbrochen regiert und gerade erst mit 76,7 Prozent wiedergewählt wurde. Putin habe „die schiefe Kurve der russischen Geschichte begradigt“, erklärt der Patriarch weiter – Lobhudeleien, die keinesfalls nur Folge eines spontanen ekstatischen Ausbruchs sind.
Denn die russisch-orthodoxe Kirche und der russische Staat sind heute enger verbandelt denn je – und das, obwohl Artikel 14 der russischen Verfassung den Staat eigentlich als „weltlich“ charakterisiert, in dem religiöse Vereinigungen von den politischen Institutionen getrennt seien.
Nach Angaben des russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM lassen sich rund 75 Prozent der Russen dem Moskauer Patriarchat zuordnen. Katholisch und evangelisch sind jeweils nur rund ein Prozent. Nach dem Niedergang der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre erlebte das Christentum in Russland eine regelrechte Renaissance.
Mit der bolschewistischen Revolution 1917, radikalisiert in der Terrorherrschaft Stalins, wurde das Land weitgehend entchristianisiert. Die Lehre des Ur-Kommunisten Karl Marx sieht in Religion schließlich nur ein „Opium des Volkes“, das die Glaubenden auf das Jenseits vertröstet, um sie im hier und jetzt leichter unterdrücken zu können.
Zahlreiche neue Kirchen und Klöster
Doch nach dem Zusammenbruch des größten kommunistischen Gebildes der Geschichte bahnte sich das orthodoxe Christentum in Russland wieder seinen Weg – der es letztendlich bis an die Macht führte. In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten entstanden 20.000 neue Kirchen. 1988 zählte die russisch-orthodoxe Kirche weniger als 7.000 Pfarreien und um die 20 Klöster, 2011 waren es schon 26.600 Pfarreien und 652 Klöster.
Doch auch wenn die Zahl der orthodoxen Christen massiv zugenommen hat: Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind aktive Kirchgänger. Für viele andere ist die Kirche hingegen in erster Linie ein kultureller Bezugspunkt, ein Teil der nationalen Tradition. Und als solcher wird er auch von Putin gebraucht.
Bei großen politischen Auftritten lässt sich der Präsident gerne persönlich vom Patriarchen begleiten, 2016 pilgerten beide beispielsweise gemeinsam auf den griechischen Berg Athos zur 1.000-Jahr-Feier des dort ansässigen Klosters. Die militärischen Interventionen Russlands im Syrien-Konflikt verteidigt Kyrill, der mit bürgerlichem Namen Wladimir Michailowitsch Gundjajew heißt, offensiv, ebenso die „Heimholung“ der Krim, wie die Eingliederung der Schwarzmeerinsel in russisches Territorium vonseiten des Kreml gerne bezeichnet wird. Und in einer Rede 2014 rief Kyrill zum Gebet dafür auf, dass das „Heilige Russland“ nicht zerstört werde.
Der Präsident fährt seinerseits eine Politik, die dem Patriarchen und seinem Gefolge gefällt – etwa wenn es um Restriktionen gegen Homosexuelle geht. Laut einem Bericht der Wochenzeitung Die Zeit verfügt die Kirche zudem über Einfluss auf Bildungseinrichtungen, Kasernen, Polizeistationen, Gefängnisse und Krankenhäuser. Kirchenvertreter sitzen demnach in staatlichen Gremien, treffen regelmäßig mit hochrangigen Staatsbeamten zusammen. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat beruht auf einem Geben und Nehmen.
Allianz mit Orthodoxen verhilft Putin zu positivem Image
Für eine russische Mitarbeiterin der christlichen Organisation ERF Medien ist die enge Beziehung des Präsidenten zur Kirche vor allem der Versuch Putins, sein Image aufzupolieren. „Wenn man von einem Patriarchen glaubt, dass er das Oberhaupt der Kirche ist, dann ist er von Gott her religiös und gewissenstechnisch okay. Jetzt kommt ein Staatsoberhaupt und stellt sich neben ihn und betet zusammen mit ihm. Das heißt, dass die vermeintliche Gerechtigkeit dieses Patriarchen wie ein Regenbogen über dem Staatsoberhaupt steht“, sagte sie in einem Interview.
Dass Putin eine tiefe Liebe zum Christentum empfindet, wie es manche Bilder durchaus vermuten ließen, darf also bezweifelt werden. Als KGB-Offizier in Dresden stand er einst zumindest treu an der Seite der sowjetischen, antiklerikalen Staatsmacht.
Und es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass Putin weiterhin glaubt, dass der – staatsferne, nicht russisch-orthodoxe – christliche Glaube ihm und seiner Macht irgendwann einmal gefährlich werden könnte. So setzte der Präsident im Juli 2016 ein umstrittenes Anti-Terror-Gesetz in Kraft, welches das Handeln insbesondere auch evangelischer Kirchen stark einschränkt.
Evangelische Christen unter Druck
Der Leiter der russischen Partnerorganisation des Missionsbundes „Licht im Osten“ berichtete auf der Jahrestagung des Vereins 2017, dass mit dem Inkrafttreten des Gesetzes keine Gottesdienste mehr in Wohnungen oder Büros gefeiert werden dürften, sondern nur noch in „religiösen Gebäuden“. Alle zur Weitergabe bestimmten Bücher oder Traktate müssten einzeln mit einem Stempel versehen werden, der den vollen Namen der für die Verbreitung verantwortlichen religiösen Organisation enthalte. Andernfalls drohten Strafen für Privatpersonen von bis zu 100 Euro und für Organisationen von bis zu 20.000 Euro. Die unerwartete Religionsfreiheit nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion gehe offensichtlich zu Ende. „Gottlose Menschen“ stünden an der Spitze des Staates.
Ähnliches berichtete laut einer Mitteilung der evangelischen Nachrichtenagentur idea auch eine russische Mitarbeiterin des Missionswerks im November letzten Jahres. Christen dürften nicht mehr frei evangelisieren. Vermehrt komme es vor, dass keine Räumlichkeiten mehr an Protestanten vermietet würden. Zudem beende die Polizei zunehmend Gemeindeveranstaltungen und beschlagnahme Häuser von Gemeinden, die nicht gemeldet seien. 50 pfingstkirchlichen Gemeinden sei die Registrierung entzogen worden.
Erfahrungen, die auch die bereits erwähnte russische ERF-Mitarbeitern gemacht hat. Sie sagt: Ein Mensch, der wirklich an Gott glaubt, habe eine Meinung und sei innerlich frei. „Er wird sich nicht vor einem Herrscher beugen, wenn es gegen Gott sein sollte“ – eine Beobachtung, die dem russischen Präsidenten möglicherweise Angst macht.
Open Doors: Niemand wegen seines Glaubens zu Haftstrafe verurteilt
Doch es gibt auch gegenläufige Entwicklungen. Pünktlich zum 500. Reformatiosjubiläum gab Russland der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Moskau ein altes Kathedralengebäude zurück, das zu Sowjetzeiten enteignet worden und auch lange danach in russischem Besitz geblieben war. Das zeigt: Von brutalster Christenverfolgung, wie sie in anderen Staaten der Welt anzutreffen ist, kann in Russland keine Rede sein.
Open Doors führt Russland daher derzeit noch als „Land unter Beobachtung“. Das Hilfswerk für verfolgte Christen sieht zwar eine Verschlechterung der Situation. So gebe es in der kaukasischen Region auch islamisch motivierten Druck auf Christen. Und im Rest Russlands werde seitens der orthodoxen Kirche regelmäßig Druck auf protestantische Freikirchen ausgeübt, weil sie angeblich „Schafe stehlen“, Irrlehrer seien oder antirussische Spione. Mindestens zehn Christen seien während dem Berichtszeitraum des Weltverfolgungsindex 2018 verletzt, 20 sogar kurzfristig von der Polizei festgehalten worden. „Doch niemand wurde zu einer Haftstrafe verurteilt“.
Von: Sandro Serafin