Es ist kurz nach 13 Uhr, die Lufthansa-Boeing 737 hebt von der Startbahn in Palma ab. Aber an diesem 13. Oktober 1977 verläuft der Flug LH 181 nach Frankfurt nicht planmäßig. Um 14:38 Uhr bemerkt die südfranzösische Flugsicherung, dass die Maschine ihre Route verlässt. Die Meldung an das Bonner Bundeskanzleramt geht sofort raus. SPD-Regierungschef Helmut Schmidt weiß noch nicht, was passiert ist – aber er weiß, dass seine politische Existenz am Schicksal der 91 Menschen in der „Landshut“ hängt. Dann die Gewissheit: Palästinensische Terroristen haben den Flieger entführt.
„Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Wenn man dem Tod so nahe ist, dann wird man das nicht mehr los“, sagt Birgitt Röhll, die damals als Fluggast in der „Landshut“ saß, vier Jahrzehnte nach den Geschehnissen. Fliegen war für die Berlinerin, die selbst bei der Lufthansa tätig war, schon vierzehn Tage nach den Ereignissen kein Problem: „Aber ich bekomme jedes Mal einen Riesenschreck, wenn von hinten jemand an meiner Lehne zieht“, sagt sie. Die Terroristen seien damals vom Heck der Maschine nach vorn gestürmt. „Ich muss bis heute immer den Blick zur Tür haben, zum Beispiel, wenn ich mir einen Platz in einem Restaurant wähle“, fügt sie hinzu.
Terror-Herbst 1977: Bereits am 5. September hatten Terroristen der linksextremistischen „Roten-Armee-Fraktion“ (RAF) in Köln den Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer entführt. Die Forderung: Freilassung der inhaftierten RAF-Spitze, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe. Sie sitzen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Innerhalb von sechs Wochen erlebt die Bundesrepublik die größte Herausforderung ihrer bisherigen Geschichte. Für Helmut Schmidt gibt es keine Parteien mehr, sondern nur noch politisch Verantwortliche. CDU-Oppositions-Chef Helmut Kohl und CSU-Mann Franz Josef Strauß sitzen im „Großen Krisenstab“ mit Schmidts SPD- und FDP-Ministern am Tisch. Der Kanzler spielt auf Zeit. Die Stammheim-Terroristen lässt er befragen, welche Ausreise-Länder infrage kommen. Schmidts Krisen-Mann, Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, fliegt los: Er konsultiert die Regierungen in Algerien, Libyen, Jemen, Irak und Vietnam. Aber Nachgeben kommt für Schmidt zu keinem Zeitpunkt infrage.
Schmierzettel als Marschbefehl
13. Oktober: Ein Palästinenser-Kommando „martyr halimeh“ fordert Hand in Hand mit den Schleyer-Entführern die Freilassung von elf „raf-genossen“, droht die „sofortige exekution“ von Schleyer sowie der 91 „Landshut“-Geiseln an.
Wischnewski (1922–2005) erinnerte sich vor seinem Tod in einem Gespräch mit dem Autor an die entscheidende Krisenstab-Sitzung: „Ich hatte ein Zettelchen, da habe ich mit Bleistift draufgeschrieben: ,Sollten wir jetzt nicht eine Lufthansa-Maschine fertig machen zum Nachfliegen?‘ Den schob ich zu Schmidt rüber.“ Schmidt reagiert gleich, schreibt mit grüner Chef-Tinte: „Ja, für dich!“ Wischnewski: „Das war der Marschbefehl für die schwierigste Mission meines Lebens. Schmidt schickte mich los mit den Worten: Du hast die größten Vollmachten, die jemals jemand gehabt hat.“ Ein Lufthansa-Jet startet, mit unsicherem Ziel. An Bord: Der Staatsminister und die Anti-Terror-Truppe des Bundesgrenzschutzes, GSG 9.
Die „Landshut“-Boeing ist in Rom gelandet. Birgitt Röhll, die mit ihrem zehnjährigen Sohn Stephan fliegt, hat ihren ersten Konflikt mit der schwerbewaffneten Terroristin Souhaila Andrawes: „Als ich zur Toilette wollte, versperrte sie den Weg.“ Doch die Berlinerin lässt nicht locker, sie kann sich nicht vorstellen, dass jemand so unmenschlich ist und den Gang zur Toilette verweigert. Die Terroristin schreit auf Englisch: „Geh zu Deinem Platz, du verdammte Hexen-Tochter.“ Mit Handgranaten in beiden erhobenen Händen schlägt die Palästinenserin gegen Röhlls Oberarm: „Den Bluterguss hatte ich noch später, als ich längst wieder zu Hause war“, sagt sie.
In den folgenden Tagen spitzt sich die Lage im Jet zu. Unerträgliche Hitze und Fäkaliengestank. Die Terroristen fuchteln mit Waffen herum. In Dubai, wo die Maschine zwei Tage steht, lässt Anführer Akache Röhll in die erste Klasse führen. Sie muss niederknien. In ihrer Handtasche hat er einen Montblanc-Füllfederhalter gefunden. Das sternförmige Firmenlogo hält er für einen jüdischen Davidstern: „Du bist eine dreckige Jüdin“, brüllt er, tritt sie ans Knie, ohrfeigt sie zwei Mal. Erklärungen lässt er nicht gelten. Sohn Stephan spucken die Terroristen ins Gesicht. Der hysterische Akache rennt durch den Gang, wedelt mit dem Pass von Röhll: „Das ist der Beweis, dein Mädchenname ist Grünewald, du bis eine Jüdin.“ Am kommenden Morgen, 7:30 Uhr, soll sich Birgitt Röhll gemeinsam mit anderen Geiseln zum Erschießen melden. Hilfesuchend wendet sie sich an Kapitän Jürgen Schumann (37): „Der war souverän und hat wirklich klasse reagiert“, sagt sie: „Er hatte eine unglaublich beruhigende Art. Er hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Er werde noch einmal mit dem Terroristen-Anführer sprechen.“ Und im Rückblick empfindet sie es als ausgesprochenes Glück, dass ihr Sohn bei ihr war: „Stephan hat mir neuen Lebensmut gegeben, hat immer wieder gesagt, ,Mutti, du wirst sehen, wir kommen hier heil raus.’“
Die Hinrichtung der Passagiere findet nicht statt, trotzdem gibt es einen Toten. 16. Oktober, 900 Kilometer weiter südwestlich in Aden im Jemen: Flugkapitän Schumann besteht auf einer Inspektion. Es ist Abend, Schumann darf mit einer Taschenlampe die Maschine verlassen. Als der Kapitän nach etlichen Minuten nicht zurückkommt, vermuten die Terroristen einen Trick – es ist sein Todesurteil: Als er wiederkommt, wird Schumann regelrecht hingerichtet. „Guilty or not guilty?“ – „Schuldig oder nicht schuldig?“, schreit Akache, der selbst ernannte Revolutionsrichter. Schumann steht mit über dem Kopf erhobenen Händen im Gang. Die Erklärungsversuche des Piloten interessieren Akache nicht. Er schlägt ihn, dann der gezielte Schuss in den Kopf. Passagiere, die weinen, werden bedroht. Stundenlang liegt die Leiche in der aufgeheizten Kabine – dann zwingen die Terroristen einige ihrer Geiseln, den Toten im Garderobenschrank im Heck der Maschine zu verstauen.
Einen Tag später steht die „Landshut“ in Somalias Hauptstadt Mogadischu. Auch eine zweite Lufthansa-Maschine landet – unbemerkt. Ambulanzen, Feuerwehr, Ärzte, Schwestern, Krankenhausbetten werden organisiert, ein Notlazarett eingerichtet. „Das alles blitzschnell, in einem armen Land“, berichtete Wischnewski. „Ich war voll beschäftigt. Ich habe überlegt: Hast du alles Machbare getan? Dann habe ich mich verzogen, sodass mich keiner sehen konnte, und habe den lieben Gott um Mithilfe gebeten. Ich habe gesagt, wir haben keine Wahl: Das Risiko ist riesengroß, aber die GSG 9 ist hervorragend.“
18. Oktober, 0:05 Uhr: GSG 9-Kommandant Ulrich Wegener startet die Aktion „Feuerzauber“. Blendgranaten werfen, Türen sprengen: Akache, der vorne neben der Tür steht, kann noch schießen, verletzt zwei Grenzschutz-Beamte, stirbt selbst im Kugelhagel. GSG 9-Leute stürmen rein. Drei Entführer sind tot, Souhaila Andrawes überlebt.
Das Flugzeug ist geknackt
0:12 Uhr: Wischnewski meldet ans Kanzleramt: „Das Flugzeug ist geknackt.“ Schmidt fragt: „Wie viele Tote habt ihr?“ Wischnewski: „Keine.“ Der Kanzler weint. Aber der Alptraum ist nicht zu Ende: In derselben Nacht nehmen sich Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim das Leben. Einen Tag später wird die Leiche von Hanns Martin Schleyer gefunden.
Trotzdem: „Wir haben uns nicht erpressen lassen“, sagte Wischnewski im Rückblick. „Die große Schmidt-Leistung war damals, zu dieser Frage alle Parteien an einen Tisch zu kriegen, alles gemeinsam zu beschließen. Es gab keine kleinkarierten, parteipolitischen Auseinandersetzungen. Das war das Beruhigende. Und ich bin mit dem beruhigenden Gefühl losgezogen, alle sind dafür, dass du diese Aufgabe übernimmst.“
Als alles vorbei war, konnte Birgitt Röhll, die heute 75 Jahre alt ist, sagen: „Gott sei Dank hat das Ganze ein gutes Ende gefunden.“ Der Glaube an Gott bedeutet ihr etwas, sie besucht Gottesdienste. Und sie sei „immer dankbar“ gewesen, damals heil davongekommen zu sein: „Aber die Sache mit dem ,lieben Gott‘, damit kann ich nicht so viel anfangen“, sagt sie ganz ehrlich: „Die Antwort auf die Frage nach dem Warum hat sich mir bis heute nicht erschlossen.“ Sie könne nicht erkennen, warum ihr und ihrem Sohn diese schlimme Erfahrung auferlegt wurde: „Allerdings habe ich später bewusster gelebt als früher und immer gewusst: So schön kann das Leben sein – meine positive Lebenseinstellung, die nimmt mir keiner.“
Für Birgitt Röhll ist alles wieder ganz nah und fast greifbar in diesen Tagen, genau 40 Jahre nach den Geschehnissen. „Auch heute noch ist es so: Wenn ich darüber rede, sitze ich mit meinem Sohn wieder hinten in der ,Landshut‘. Alles ist sofort wieder präsent: der Gestank, die Todesangst.“ Und immer wieder sagt sie: „Ich kann das niemals vergessen, es hat mein Leben geprägt, aber Stephan und ich haben gelernt damit umzugehen.“ Es sei so ähnlich wie früher bei ihrer Mutter: „Wenn die in späteren Jahren an den Krieg erinnert wurde, dann war sie wieder mittendrin – der Krieg hat sie ein Leben lang begleitet.“
Von: Christoph Irion