Susi Neumann ist „stinksauer“. Die Putzfrau, die sich einst vor laufenden Kameras mit SPD-Chef Sigmar Gabriel anlegte, hatte sich extra für Sonntag im Willy-Brandt-Haus angemeldet. Unbedingt wollte sie dabei sein, wenn die SPD-Spitze den Kandidaten für den Bundestagswahlkampf nominieren würde. Doch Gabriel hielt sich wie so oft nicht an den eigenen Plan und verriet schon vorher, dass Martin Schulz – und nicht er selbst – für die Sozialdemokraten in den Ring steigen sollte.
Nun wettert Susi Neumann im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt: „Mir fehlt das Verständnis dafür, alle auf den Sonntag, 29. Januar, einzuschwören und dann vorher ein solches Interview zu geben. So geht man nicht mit Menschen um. Es gehört sich nicht.“ Jedoch: Die Entscheidung sei richtig und verdiene Respekt. Susi Neumann mag Schulz. Er sei bodenständig, erfahren und intellektuell, jubelten auch viele Sozialdemokraten und erfuhren dafür Zustimmung in so manchem Pressekommentar.
„Jemand, der die kleinen Leute versteht”
Martin Schulz hat in der Tat eine bemerkenswerte Karriere hingelegt, die ganz unten begann und nun in ihrem vorläufigen Zenit steht. Er brach die Schule nach der elften Klasse ab, wurde Alkoholiker, fing sich später wieder, wurde Buchhändler, Bürgermeister von Würselen, Abgeordneter des EU-Parlaments, Vorsitzender der Sozialistenfraktion und schließlich sogar Parlamentspräsident.
Der Sozialdemokrat mit dem Aachener Zungenschlag gilt in seiner Partei als jemand, der die kleinen Leute versteht, der sich bei einer Unterhaltung mit einem hart malochenden Metallarbeiter genauso wenig fremd fühlt, wie wenn er in der Manier eines Elder Statesman über die ganz großen politischen Fragen referiert. Seine Neigung, auch als Parlamentspräsident an kaum einen Mikrofon vorbeizugehen, sahen viele Abgeordnete jedoch kritisch.
„Für mich sind wir Menschen das Resultat eines natürlichen Prozesses, mit unserem Tod hört unsere geistige Existenz auf.“
Dazu dürften viele Menschen in Schulz den Inbegriff des Brüsseler Establishments sehen. „Die AfD wird ihr Glück kaum fassen können“, kommentierte der FAZ-Journalist Jasper von Altenbockum. Schulz wird beweisen müssen, dass er sich auch in den Niederungen der Innenpolitik behaupten kann. Hatte er im vergangenen Jahr noch so ruhmvolle Aufgaben wie Papst Franziskus mit dem Karlspreis auszuzeichnen, erwarten ihn im Wahljahr nun Bierzelte, Wahlkampfstände und Stadthallen in der deutschen Provinz.
„Menschen sollen das Gefühl haben, respektiert zu sein“
Über Schulz’ inhaltliche Anliegen ist erstaunlich wenig bekannt. Soziale Gerechtigkeit und Sicherheit sollen Themen seines Wahlkampfes werden. Schulz will, „dass die Menschen das Gefühl haben, respektiert zu sein, dass sie die gleichen und fairen Chancen haben, sich in der Gesellschaft zu verwirklichen“, wie er kurz nach Bekanntgabe seiner Kandidatur vor Journalisten sagte. Das ist natürlich ein nicht gerade origineller Ansatz. Doch Schulz ist auch nicht wegen seiner politischen Überzeugungen, sondern wegen seiner hohen Beliebtheit zur Spitzenkandidatur gekommen.
Mit einem frischen und unverbrauchten Gesicht an der Spitze der SPD, als das Schulz mit seinen 61 Jahren unter Genossen offenbar gilt, habe man eben vielleicht doch Chancen, der Dauerkanzlerin Angela Merkel etwas Wasser abzugraben. Und wie hält er’s mit der Religion? Zwar ging der Politiker auf eine katholische Schule und hatte eine gläubige Mutter. Als Kind habe er an Gott geglaubt, doch dieser Glaube sei verloren gegangen, wie er 2014 gegenüber chrismon sagte. „Für mich sind wir Menschen das Resultat eines natürlichen Prozesses, mit unserem Tod hört unsere geistige Existenz auf.“ Christliche Werte spielten für Martin Schulz privat und beruflich dennoch eine große Rolle, sagte er im vergangenen Jahr dem Domradio. (pro)
Von: nf