„Religion ist niemals nur Privatsache.“ Das hat der frühere Bundestagspräsident Thierse am Montag in Berlin erklärt. Im Gegenteil, sagte er weiter: „Man verfälscht den christlichen Glauben, wenn man ihn in die Privatsphäre zurückdrängen will.“ Andererseits seien die Kirchen Teil einer pluralistischen Gesellschaft. Daraus folgten zwei Dinge: Christen müssten sich einmischen, aber auch damit leben, dass ihre moralische Überzeugung möglicherweise nicht mehrheitsfähig sei.
Thierse selbst ist engagierter Katholik und berichtete im Gespräch mit Christoph Irion, dem Geschäftsführer des Christlichen Medienverbundes KEP: „Wir tragen im Bundestag nicht unser religiöses Bekenntnis vor uns her.” Christen in der Politik seien gefordert, das, was sie glaubten, in eine gemeinsame Sprache der Argumente aller Politiker zu übersetzen.
„Politik ist nicht alles“
„Mir hat immer geholfen, dass man als Christ doch lernt: Politik ist nicht alles”, sagte Thierse. Der christliche Glaube lade Politiker dazu ein, sich klar zu werden, dass sie sich nicht überfordern müssten. Thierse: „Am Schluss wissen sie: Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.”
Sorge machen Thierse dennoch die aktuellen populistischen Strömungen in der Politik, allen voran der Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus. Politiker dürften sich niemals als Erlöser verstehen. „Politik ist für das Wohl möglichst vieler zuständig, Religion für das Heil.” Drehe es jemand andersherum, werde es gefährlich.
„Katholisch zu sein heißt, mit Ärger zu leben“
Anlass des Interviews war die Vorstellung des Buchs „Berliner Gespräche“ (Francke) des Theologen Martin Knispel und des Journalisten Norbert Schäfer. Knispel ist Geschäftsführer der Stiftung für Christliche Wertebildung, Schäfer Redakteur beim Christlichen Medienmagazin pro. In ihrem Buch sprechen 15 Bundespolitiker wie Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Bodo Ramelow (Linke) oder Franz Josef Jung (CDU) über Glaubens- und Wertefragen.
Thierse etwa äußert sich über seinen christlichen Glauben und dessen Verbindung zur Politik: „Katholischer Christ bin ich, seit ich getauft bin, Sozialdemokrat wurde ich erst später. Die frühe Prägung hat ein Leben lang angehalten, in allen Anfechtungen und Zweifeln. Glauben heißt ja auch immer, mit den eigenen Zweifeln und Unsicherheiten und mit dem Ärger über die eigene Kirche zu leben. Ich sage immer: Katholisch zu sein heißt auch, mit dem Ärger zu leben. Das ist die Verwandtschaft zwischen katholischer Kirche und Sozialdemokratie.“ Weiter zitieren die Autoren ihn: „Der christliche Glaube zeichnet sich dadurch aus, dass er den Menschen dazu befähigt, mit Scheitern und Irrtum fertigzuwerden.“ (pro)
Von: al