Am Mittwoch gibt es in den Niederlanden vorgezogene Neuwahlen. Die Tageszeitung "Die Welt" hat mit Scheffer gesprochen, einem der einflussreichsten Soziologen der Niederlande. Seit 2003 ist er Inhaber des Wibaut-Lehrstuhls für Probleme der Großstadt an der Universität von Amsterdam. Vor zehn Jahren warnte er sein Land vor dem "multikulturellen Drama" und löste damit eine große Debatte über Integration in den Niederlanden aus. Scheffer ist Mitglied der niederländischen Sozialdemokraten.
"In meinem Viertel von Amsterdam bestand schon damals die Hälfte der Bevölkerung aus Migranten, ich habe die Segregation in der Schule gesehen, ich sah die zunehmende Kriminalität in meinem Quartier. Die Debatte war schon damals überfällig", sagt Scheffer. Die zweite Generation türkischer und marokkanischer Einwanderer habe große Fortschritte bei der höheren Bildung gemacht, aber es gebe immer noch 40 Prozent, "die auf der untersten Stufe hängen bleiben".
Scheffer bemängelt: "Es gibt immer noch Ehrenmorde und arrangierte Ehen. In Antwerpen sagten mir die Lehrer, es sei schwierig geworden, im Unterricht über den Holocaust zu sprechen, 80 Prozent der Schüler sind aus muslimischen Familien. Es ist schwierig geworden, in Biologie über die Evolutionslehre zu reden oder im Literaturunterricht über einen ‚perversen‘ Schriftsteller wie Oscar Wilde."
"Den Schock der Globalisierung produktiv nutzen"
Man müsse den Dialog suchen und dabei Vorurteile und Gleichbehandlung ansprechen. "Ich erinnere mich an eine Konferenz der CDU, wo man gegenüber den Muslimen auf einer strikten Trennung von Kirche und Staat bestand, aber über die deutsche Kirchensteuer wollte man nicht reden. Prinzipien müssen für alle gelten." Der Soziologe ist überzeugt: "Wenn man von den Einwanderern fordert, ihre Traditionen zu überdenken, muss auch die eingesessene Gesellschaft dazu bereit sein. Das Kruzifix ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn man sagt: ‚wir‘ Niederländer oder ‚wir‘ Deutsche, dann ist dieses ‚wir‘ immer im Wandel. Die katholische Emanzipation hat die Niederlande verändert, die Emanzipation der Arbeiter und der Frauen auch, und bei der Emanzipation der Migranten wird es genauso sein."
Es sei "verständlich, aber unrealistisch", wenn sich Menschen gegen derartige Veränderungen in der Gesellschaft sträubten, wie dies etwa das Schweizer Minarett-Votum zeigte. "Man muss den Schock der Globalisierung produktiv nutzen."
Die muslimische Bevölkerung sei "ethnisch und religiös stark aufgesplittert, auch in Generationen". Scheffer weiter: "Sie ist überhaupt nicht hoch organisiert. Es gab einmal den Versuch, ein muslimisches Radio zu gründen, das ist wieder auseinandergefallen. Die meisten Muslime wollen, dass aus ihren Kindern etwas wird. Es gibt Formen der Radikalisierung, aber die sind beschränkt. Wir reden von sechs Prozent Muslimen in den Niederlanden. Die Gefahr einer Islamisierung der Gesellschaft, von der Wilders spricht, die gibt es nicht." Der 46-jährige Geert Wilders ist Chef der islamkritischen "Partei für die Freiheit", bei der Wahlforscher eine Verdopplung ihrer Sitze für möglich halten. Bei den Europawahlen 2009 erreichte sie etwa 17 Prozent und wurde damit zweitstärkste Kraft in den Niederlanden.
Im Bereich der Familienkultur gebe es konservativere Auffassungen unter den Muslimen, auch in der zweiten Generation, so Scheffer. "Andererseits bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob niederländische Jugendliche noch so tolerant gegenüber der Homosexualität sind, wie wir glauben. Das ist Teil der offenen Gesellschaft, dass es auch bei Christen traditionelle religiöse Auffassungen gibt. Man kann sicher sagen, dass es mehr Frömmigkeit gibt in den Niederlanden. Aus meiner Sicht ist das kein Fortschritt." (pro)
"In meinem Viertel von Amsterdam bestand schon damals die Hälfte der Bevölkerung aus Migranten, ich habe die Segregation in der Schule gesehen, ich sah die zunehmende Kriminalität in meinem Quartier. Die Debatte war schon damals überfällig", sagt Scheffer. Die zweite Generation türkischer und marokkanischer Einwanderer habe große Fortschritte bei der höheren Bildung gemacht, aber es gebe immer noch 40 Prozent, "die auf der untersten Stufe hängen bleiben".
Scheffer bemängelt: "Es gibt immer noch Ehrenmorde und arrangierte Ehen. In Antwerpen sagten mir die Lehrer, es sei schwierig geworden, im Unterricht über den Holocaust zu sprechen, 80 Prozent der Schüler sind aus muslimischen Familien. Es ist schwierig geworden, in Biologie über die Evolutionslehre zu reden oder im Literaturunterricht über einen ‚perversen‘ Schriftsteller wie Oscar Wilde."
"Den Schock der Globalisierung produktiv nutzen"
Man müsse den Dialog suchen und dabei Vorurteile und Gleichbehandlung ansprechen. "Ich erinnere mich an eine Konferenz der CDU, wo man gegenüber den Muslimen auf einer strikten Trennung von Kirche und Staat bestand, aber über die deutsche Kirchensteuer wollte man nicht reden. Prinzipien müssen für alle gelten." Der Soziologe ist überzeugt: "Wenn man von den Einwanderern fordert, ihre Traditionen zu überdenken, muss auch die eingesessene Gesellschaft dazu bereit sein. Das Kruzifix ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn man sagt: ‚wir‘ Niederländer oder ‚wir‘ Deutsche, dann ist dieses ‚wir‘ immer im Wandel. Die katholische Emanzipation hat die Niederlande verändert, die Emanzipation der Arbeiter und der Frauen auch, und bei der Emanzipation der Migranten wird es genauso sein."
Es sei "verständlich, aber unrealistisch", wenn sich Menschen gegen derartige Veränderungen in der Gesellschaft sträubten, wie dies etwa das Schweizer Minarett-Votum zeigte. "Man muss den Schock der Globalisierung produktiv nutzen."
Die muslimische Bevölkerung sei "ethnisch und religiös stark aufgesplittert, auch in Generationen". Scheffer weiter: "Sie ist überhaupt nicht hoch organisiert. Es gab einmal den Versuch, ein muslimisches Radio zu gründen, das ist wieder auseinandergefallen. Die meisten Muslime wollen, dass aus ihren Kindern etwas wird. Es gibt Formen der Radikalisierung, aber die sind beschränkt. Wir reden von sechs Prozent Muslimen in den Niederlanden. Die Gefahr einer Islamisierung der Gesellschaft, von der Wilders spricht, die gibt es nicht." Der 46-jährige Geert Wilders ist Chef der islamkritischen "Partei für die Freiheit", bei der Wahlforscher eine Verdopplung ihrer Sitze für möglich halten. Bei den Europawahlen 2009 erreichte sie etwa 17 Prozent und wurde damit zweitstärkste Kraft in den Niederlanden.
Im Bereich der Familienkultur gebe es konservativere Auffassungen unter den Muslimen, auch in der zweiten Generation, so Scheffer. "Andererseits bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob niederländische Jugendliche noch so tolerant gegenüber der Homosexualität sind, wie wir glauben. Das ist Teil der offenen Gesellschaft, dass es auch bei Christen traditionelle religiöse Auffassungen gibt. Man kann sicher sagen, dass es mehr Frömmigkeit gibt in den Niederlanden. Aus meiner Sicht ist das kein Fortschritt." (pro)