pro: In einem Vortrag zur Frage, ob Religionen Lösung oder Ursache für Konflikte sind, haben Sie gesagt, dass Religionen oft politisch instrumentalisiert werden. Warum geht das so einfach?
David Rosen: Soziologisch gesprochen haben Religionen drei wichtige Bausteine: den Glauben, das Verhalten und die Zugehörigkeit. Der Faktor „Zugehörigkeit“ wird häufig nicht genug berücksichtigt, wenn wir über Religion sprechen. Identität ist untrennbar mit Religion verbunden, denn Religion hilft uns zu verstehen, wer wir sind. Wenn wir uns bedroht fühlen, schotten wir uns ab von den weiteren sozialen Kreisen, die auch Identität geben können. Wenn sich zum Beispiel Gruppen von Menschen bedroht fühlen, werden sie nicht Teil des Volkes werden. Religion stillt bei so einer wahrgenommenen Bedrohung ein sehr wichtiges Bedürfnis: Sie verstärkt einen Sinn für Werte und für die eigene Rechtschaffenheit. Das führt aber auch zu Selbstgerechtigkeit, zu einer abschätzigen Haltung gegenüber anderen und oft zu ihrer Dämonisierung. In diesem Gefühl der Entfremdung hat der Missbrauch von Religion eine wesentliche Ursache. Wenn Menschen merken, dass sie nicht willkommen sind, dass auf sie herabgesehen wird und die Gesellschaft sie ablehnt, müssen sie sich rechtfertigen. Dann entwickeln sie Ideologien, in denen sie sich als überlegen ansehen. Sie halten sich also selbst für rechtschaffen und machen ihrerseits die anderen schlecht. So wird Religion in solchen Situationen zum Teil des Problems. Damit das nicht geschieht, müssen wir den Menschen eine Identität geben und ihrem Bedürfnis nach Sicherheit nachkommen. Wenn sie beides haben – Sicherheit und Identität –, kann Religion eine konstruktivere Rolle spielen.
Liegt in Religionen selbst auch ein Potenzial für Gewalt?
Ich glaube nicht, dass irgendeine Religion von ihrem Wesen her gewaltsam ist. Selbst wenn man ganz extreme Beispiele nimmt wie die Terrororganisationen Al-Kaida oder Islamischer Staat: Die würden sagen, sie verteidigen nur sich selbst. Wenn Sie sich selbst vom Rest der Welt bedroht fühlen, dann greifen Sie zu Gewalt und Waffen, weil Sie glauben, es ist Ihre religiöse Pflicht, sich zu verteidigen. Pazifistische Weltanschauungen sehen genau darin ein Problem. Soll man also Pazifist werden? Viele Religionen – auch meine – sagen, das ist unverantwortlich. Denn ein Mensch hat die Pflicht, jeden zu verteidigen, der bedroht wird. Die Frage ist: Wann und was ist legitime Selbstverteidigung? Das zu klären ist derzeit die entscheidende Herausforderung für die Religionen.
In einem Kommentar für die Jüdische Allgemeine haben Sie geschrieben, die Politik braucht die religiösen Leiter, um für eine friedliche Gesellschaft zu sorgen. Warum ist das so?
Das führt zur Frage nach der Identität zurück. In Konflikten ist Identitätspolitik zentral. Bei den Konflikten wie jetzt in Kaschmir oder im Nahen Osten geht es nicht um religiöse Lehren, es geht um Territorium. Betroffen sind aber Menschen mit Identitäten, und die wiederum haben ihre Wurzeln in Religionen und Kulturen. Das sind immaterielle Werte, die auf religiösen Gefühlen und Einstellungen beruhen. Dadurch bekommt das Ganze eine psychisch-spirituelle Dimension. Wenn Sie die ignorieren, werden Sie solche territorialen Konflikte nicht richtig lösen können. Deshalb will ich, dass Politiker religiöse Empfindungen ernstnehmen. Und dass sie Religion nicht als Teil des Problems ansehen, dem sie aus dem Weg gehen können – dann würde sie umso mehr Teil des Problems. Politiker sollten die Religionen zum Teil der Lösung machen, sie ermutigen und dafür sorgen, dass für Verhandlungen zwischen Konfliktparteien auch Religionsvertreter zusammenkommen, die diese Initiativen unterstützen.
In Europa erleben wir derzeit wieder einen wachsenden Antisemitismus. Woher kann das kommen?
Ich bin gar nicht so sicher, ob es in absoluten Zahlen heute tatsächlich mehr Antisemitismus gibt als in der Vergangenheit. Allerdings herrscht heute eine größere Legitimität, antisemitische Vorstellungen auch zu äußern. Das trifft allgemein auch auf anti-islamische und ausländerfeindliche Einstellungen zu. Wir erleben eine Brutalisierung unserer Gesellschaft. Warum? Das hat mit dem zunehmendem Populismus zu tun. Und es hängt paradoxerweise auch eng zusammen mit der Demokratisierung durch die modernen Medien und neuen Kommunikationskanäle. Es gibt dort keine Kapazität mehr für echte Qualitätskontrolle: Alles ist erlaubt, alles geht. Wenn die Menschen erst einmal daran gewöhnt sind, solche Ansichten zu hören, die zu äußern ihnen vor einiger Zeit noch peinlich gewesen wäre, fühlen sie sich heute legitimiert dazu. Aber objektiv gesehen, würde ich sagen, gibt es jetzt genauso viel Antisemitismus wie zuvor.
Was können Journalisten dazu beitragen, Spannungen aufzulösen und den Frieden zu fördern?
Wenn ich anderen Leuten erzähle, wie toll die interreligiöse Bewegung heute ist, dass es nie zuvor so viel Kooperation, Austausch und Zusammenarbeit zwischen den Religionen gegeben hat, glauben die oft, ich mache mir selbst etwas vor. Denn was Schlagzeilen macht und die Einschaltquoten nach oben treibt, ist doch das Sensationelle. Daran sind nicht die Medien schuld, sondern der menschliche Geist. Irgendetwas in unserem Herz mag das Blut und all das Schlimme mehr als die ruhigen, friedlichen, konstruktiven Themen. Was Medien tun können: Sie müssen einen Weg finden, das Gute mehr hervorzuheben und auch zu zeigen, wo sich auf unserer Welt überall Religionen respektvoll begegnen und zusammenarbeiten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Rabbi David Rosen, geboren 1951 in Newbury, England, ist Internationaler Direktor für Interreligiöse Angelegenheiten des Amerikanischen Jüdischen Komitees. Er gehört der Kommission für Interreligiösen Dialog des Oberrabbinats in Israel an und engagiert sich in weiteren Gremien und Organisationen für den Austausch zwischen Religionen. Für seinen Einsatz auf diesem Gebiet hat er mehrere Auszeichnungen bekommen. Eine davon ist der Gregoriusorden, den Papst Benedikt XVI. Rosen 2005 für seinen Beitrag zur jüdisch-katholischen Versöhnung verlieh. pro hat am Rande der 10. Weltkonferenz von „Religions for Peace“, deren Co-Präsident Rosen ist, in Lindau mit ihm gesprochen.
Die Fragen stellte Jonathan Steinert