Aus einem goldbraunen Audi A8 heraus zeigt Petra Pau auf eine Holzkirche vor der Kulisse trist-grauer Plattenbauten in Berlin-Marzahn. Hier ist die russisch-orthodoxe Gemeinde untergekommen, ein Kreuz mit den typischen drei Querbalken zeugt auf der Kirchturmspitze von der Denomination. „Ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass es diese Kirche gibt“, sagt Pau. Damit die Orthodoxen ihr Obdach nicht länger in der nahegelegenen protestantischen Gemeinde haben mussten, habe sie sich für den Bau stark gemacht. Mittlerweile hat die Linkenpolitikerin dort auch schon den ein oder anderen Gottesdienst besucht. „Eine besondere Erfahrung“ nennt sie das und lächelt. Eine mehrstündige Osterfeier ohne Sitzgelegenheiten, wie bei Orthodoxen üblich, ist für sie, die protestantische Wurzeln hat, gewöhnungsbedürftig. Mit dem Fahrdienst des Deutschen Bundestages geht es weiter durch den Kiez, über Kopfsteinpflaster in Alt-Marzahn und vorbei an evangelischen und katholischen Gotteshäusern. Pau weiß zu jedem etwas zu erzählen und empfiehlt am Ende der Tour noch die kirchenhistorische Ausstellung gleich ums Eck.
Nicht wenige dürfte Paus demonstrative Wertschätzung für die Kirchen überraschen. Denn sie ist nicht nur Politikerin der kirchenkritischen Linken, von der zudem jüngst bekannt wurde, dass sie im Bundestag auf eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts pochen wird – ein NoGo für viele Christen. Zu DDR-Zeiten war die heutige Bundestagsvizepräsidentin SED-Mitglied, wurde in den Instituten der Partei unter anderem zur Lehrerin ausgebildet und arbeitete für die Freie Deutsche Jugend (FDJ), bis die Mauer fiel. Der CSU-Politiker Peter Ramsauer soll sie einer Anekdote zufolge im Bundestag einmal als „gottlose Type“ bezeichnet haben, weil sie für einen 22. Dezember, kurz vor den Weihnachtsfeiertagen, eine Sondersitzung des Plenums zur Abstimmung über Hartz IV forderte. Pau erzählt die Geschichte gerne und oft. Auch, weil sie das Klischee der gottlosen Linken mit Genuss widerlegt. Pau ist nicht nur als Protestantin in der DDR groß geworden. Sie hilft auch regelmäßig bei kirchlichen Projekten, stand etwa schon bei der Heilsarmee an der Drehorgel. Sie sprach eine öffentliche Fürbitte bei der Beisetzung ihres CDU-Kollegen Peter Hintze im Jahr 2016 und betete beim Gottesdienst anlässlich der Konstituierung des Bundestages 2017 öffentlich für einen respektvollen Umgang der Politiker miteinander. „Ich würde heute von mir sagen, ich bin ein gläubiger Mensch“, erzählt sie bei Carpaccio, Sprudelwasser und Espresso in einer Marzahner Pizzeria. Wieso ist eine Linke gläubig, oder andersherum: eine Gläubige bei den Linken? Wieso hat eine Getaufte eine klassische DDR-Laufbahn absolvieren können? Und was bedeutet Petra Pau der Glaube heute?
Regimetreu im Osten, SED-kritisch im Westen
Sie wird 1963 – zwei Jahre nach dem Mauerbau – in Ost-Berlin geboren. Ihre ersten Erinnerungen drehen sich vor allem um den evangelischen Kindergarten, in den die protestantische Mutter sie schickt. Als Getaufte darf sie den besuchen, anderswo kann ihre berufstätige Mutter sie nicht unterbringen – die Plätze reichen in der DDR noch nicht aus. Die Taufe selbst war Ergebnis eines Kompromisses zwischen der gläubigen Mutter und dem atheistischen Vater. „Es lag meiner Mutter am Herzen, auch wenn sie selbst kaum in die Kirche ging“, sagt Pau. In der Schulzeit besucht Pau die Christenlehre und anschließend den Konfirmandenunterricht. Als wirklich gläubig habe sie sich damals nicht empfunden, dafür aber eine Nähe zur Kirche und vor allem der Gruppe junger Menschen, mit denen sie dort zusammen war, gefühlt. Staatlicherseits habe sie deswegen nie Probleme gehabt oder Repressionen erlebt, sagt sie rückblickend. Vorbehalte gegen Christen bekommt sie nur in abgemilderter Form während des Studiums zu spüren, als sie gefragt wird, ob sie in der Kirche sei oder nicht. Pau will Lehrerin und Pionierleiterin werden und beschließt, ihre Konfirmation fortan nicht an die große Glocke zu hängen. Denn klar ist damals: Die DDR erwartet von ihren Lehrkräften, keinem Glauben anzuhängen. „Ich habe das dann einfach für mich gelebt“ , erinnert sie sich und fügt hinzu: „Ich hatte großes Glück.“ Ihr sei bewusst, dass andere Christen die Wucht des kirchenfeindlichen Regimes stark zu spüren bekamen. Sie durften bestimmte Bildungswege nicht einschlagen, wurden überwacht, landeten gar im Gefängnis. Dass ihr das erspart blieb, erklärt Pau sich heute mit einer eher liberalen Ost-Berliner Haltung zum Thema: „Ich weiß, anderen ging es schlechter.“
„Ich würde heute von mir sagen, ich bin ein gläubiger Mensch.“
Eine erste Anstellung findet sie 1983 im Prenzlauer Berg, ist dort plötzlich umgeben von Kindern aktiver Bürgerrechtler. Auch getrieben von ihren eigenen Erfahrungen als Protestantin in der DDR beschließt sie: „Ich grenze kein Kind aus, egal, ob es in der staatlichen Kinderorganisation ist oder nicht.“ Doch sie beteiligt sich nie aktiv am Widerstand gegen das System. Erst nach dem Ende der DDR räumt sie auf – mit sich, ihrer Vergangenheit mit der SED und dem Mauerbau. Sie distanziert und entschuldigt sich – teils gegen Widerstand aus der eigenen Partei. Pau sitzt heute seit fast zwanzig Jahren im Deutschen Bundestag. Die 1,63 Meter kleine Frau zählt zu den Großen bei der Linken. Davon können auch Sommersprossen und ein roter Bürstenschnitt nicht ablenken, die die 55-Jährige ungewöhnlich jung wirken lassen. Zu ihrer Arbeit als Pionierleiterin und Lehrerin sagt sie: „Jeder, der in diesem System und wie ich in einem Beruf gearbeitet hat, wo er Einfluss auf die Biografien von Menschen hatte, muss sich die Frage nach der eigenen Verantwortung stellen.“ Die Tageszeitung taz nannte sie einmal eine „selbstkritische Linke“.
Es ist der 4. November 1989, als ihr persönlicher Tag der Wende kommt. Eine Million Menschen demonstrieren auf dem Alexanderplatz, offiziell von der Staatsführung genehmigt, das Regime steht kurz vor dem Zusammenbruch. Pau tritt wenige hundert Meter weiter wie jeden Morgen ihren Dienst beim Zentralrat der FDJ im Büro Unter den Linden an – dem heutigen Standort des ZDF in Berlin. Auf ihrer Agenda steht die Vorbereitung eines Referats. Damit soll eine Weiterbildung eröffnet werden. Doch es kommt anders. Sie und ihre beiden Kolleginnen schenken dem Fernseher und den Ereignissen in unmittelbarer Nähe mehr Beachtung als der Arbeit. Als sie schließlich zum Mittags-imbiss in die Kantine gehen, trauen sie ihren Augen nicht: Soldaten mit Militärausrüstung stehen im Innenhof bereit. Um gegen die „Konterrevolutionäre“ vorzugehen, sollen sie am Brandenburger Tor durchbrechen, heißt es. „Das war der Punkt, an dem wir geschlossen sagten: Es reicht. Wir packten unsere Sachen und fuhren nach Hause. Der geplante Lehrgang fand dann nie statt“, erinnert sich Pau.
Den Abend des Mauerfalls wenige Tage später verschläft sie. Pau wohnt damals schon im Ost-Berliner Stadtteil Hellersdorf, fernab des Zentrums. „Ich bin einige Tage später rübergegangen.“ In den folgenden Monaten ist es ihre Aufgabe, die Pionierorganisation und ihre Einrichtungen abzuwickeln. Weil Pau Erfahrung in der politischen Jugendarbeit hat, landet sie am Ende der Übergangszeit in der Bezirksverordnetenversammlung ihres Stadtteils. Plötzlich sind ihr die Kirchen Partner und Gegenüber: Im Westen sind sie auch damals schon Träger von Jugend- und Sozialeinrichtungen, eine Unmöglichkeit in der DDR, wo Kirche und Staat strikt getrennt waren. „Das war aufregend und manche Verhandlungen waren für mich vielleicht leichter als für andere, die mit den Kirchen noch nie etwas zu tun hatten“, sagt sie. Dennoch war ihr die Nähe zwischen Staat und Kirche an manchen Stellen suspekt. „Bis heute ist das für mich ein Spannungsfeld. Ich habe höchsten Respekt vor dem, was die Diakonie und andere tun. Ich freue mich, wenn Menschen sich uneigennützig für andere einsetzen.“ Dennoch ist sie wie ihre Partei gegen Sonderrechte für Kirchen, etwa im Arbeitsrecht. Pau steht für eine Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen ein, nicht aber für einen Abbruch der Beziehungen zwischen Staat und Kirche wie manch anderer Linker.
Sie sieht die Militärseelsorge kritisch, wünscht sich einen flächendeckenden und verpflichtenden Ethik- statt freiwilligen Bekenntnisunterricht. Dennoch soll jeder Schüler etwas über die Bibel lernen. „Kulturelle Armut“ nennt die ehemalige Deutsch- und Kunstlehrerin es, wenn das Wissen um religiöse Schriften ausgeblendet wird wie im Bildungssystem der DDR. „Man wird nicht gerade dümmer davon, wenn man sich mit Religion beschäftigt“, sagt Pau und spricht davon, wie sie es selbst schätzt, wenn Nichtreligiöse die Bibel als kulturstiftend und kraftspendend entdecken. Sie wehrt sich dagegen, das missionarisch zu nennen. „Wir brauchen das für das Miteinander. Gerade jetzt, wo alles um uns herum zerbröselt“, sagt sie mit Blick auf das europaweite Erstarken populistischer Bewegungen.
Die Linke und die Kirche
Dass das Verhältnis zwischen Linken und der Kirche beiderseits kritisch beäugt wird, hält sie für überholt. Schuld daran ist ihrer Meinung nach einerseits ein westliches Nichtwissen darüber, dass es auch in der DDR getaufte Christen gegeben habe. Andererseits beobachtet sie bis heute Vorbehalte gegenüber Kirchen in der linken Szene. Pau bekommt das immer dann zu spüren, wenn sie etwa auf Kirchentagen auftritt. Sie erinnert sich auch an Zuschriften von Unterstützern, die forderten, die Linke müsse sich per se als religionsfeindlich verstehen. Dabei beheimatet die Linke prominente bekennende Bibelleser wie Bodo Ramelow oder Gregor Gysi. Und es gibt bis heute die AG Christinnen und Christen in ihrer Partei. Pau selbst ist dort nicht Mitglied. Auf deren Seite heißt es in rechtfertigendem Ton: „Deshalb halten wir es für ganz normal und selbstverständlich, keineswegs für spektakulär oder nur ausnahmsweise möglich, wenn einer Religionsgemeinschaft Zugehörige sich auch in der Partei DIE LINKE politisch organisieren und engagieren oder sie unterstützen und genauer kennen lernen wollen. Warum dann unsere Arbeitsgemeinschaft? – Weil sich unter der Bürde von Lasten aus Geschichte nicht alles, was eigentlich selbstverständlich ist, auch für alle von selbst versteht.“ Neben diesem Zusammenschluss steht ebenso selbstverständlich das Marxistische Forum oder die Arbeitsgemeinschaft Laizismus. In Paus Bücherregal sieht es ähnlich aus. Das Kapital von Karl Marx stehe gleichberechtigt neben dem gleichnamigen Werk des Kardinals Reinhard Marx, einem Plädoyer für einen menschlichen Kapitalismus.
Ruhe, Beistand und Orientierung in der Kirche
Pau steigt nach der Wiedervereinigung schnell auf in ihrer Partei, damals noch die PDS, wird Bezirksverbandsvorsitzende, Landesvorsitzende, zieht 1998 per Direktmandat in den Bundestag ein und bleibt dort bis heute. Sie gilt als Stimme der Vernunft, als eine, die die Partei erneuern will, sodass sie regierungsfähig wird. Das macht sie zur geeigneten Kandidatin für das ehrenvolle Amt der Bundestagsvizepräsidentin, das sie 2006 übernimmt. Selbstproduzierte Videos ihrer Fraktion zeigen sie in jener Zeit als Kommentatorin vor der Kulisse des Reichstagsgebäudes. Pau fordert mit klarer und kraftvoller Stimme gleiche Löhne für Ost und West, kritisiert den damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble oder die Hartz-IV-Gesetze.
Am 5. Mai 2010 verstummt die Parlamentarierin. Der TV-Sender Phoenix zeigt live, wie sie zu einer Rede vor der Enquetekommission Internet und Gesellschaft ansetzt – und nach zwei Sätzen abbricht. Ihre Stimme versagt. Sie wird sie für lange Zeit nicht wiederfinden. Spasmodische Dysphonie heißt die Krankheit, die sie ihren Beruf hätte kosten können. Denn ein Politiker ohne Stimme kann nicht arbeiten. Ein Video aus dem Jahr 2011 zeigt sie bei einer Rede im Bundestag. Nichts ist geblieben von ihrem kraftvollen Ton, sie klingt mechanisch, stockend, heiser, angestrengt. Erst mithilfe aufwändiger Therapien bekommt sie ihre Krankheit unter Kontrolle, auch wenn sie ihren selbstbewussten Ton wohl für immer verloren hat. Wer sie sprechen hört, könnte sie für stark erkältet oder – in ihrem Metier viel schlimmer – schüchtern halten. Im Bundestag und bei öffentlichen Auftritten verstärken seitdem ein Headset und Lautsprecher ihre Worte. Wichtig ist das für die Bundestagsvizepräsidentin besonders, seit die AfD ins Parlament eingezogen und damit auch der Ton im Hohen Haus nicht nur rauer, sondern auch lauter geworden ist. „Wenn schwierige Debatten bevorstehen, sage ich den Technikern, sie sollen meine Stimme besonders laut drehen“, berichtet Pau. Beim Treffen mit pro spricht sie leise, so leise, dass das Tonbandgerät ab und an Probleme hat, ihre Worte mitzuschneiden, wenn einige Meter weiter die italienische Espressomaschine läuft. Manchmal atmet sie hörbar ein und aus, sie macht Pausen beim Sprechen. Aber sie spricht. Von Krisen etwa, die sie näher zum Glauben gebracht haben. Nach ihrer Erkrankung sei sie gerne in die Kirche gegangen – um Ruhe, sich selbst, Beistand und Orientierung zu finden. Heute ist sie sich sicher: „Dass da jemand und etwas ist, auf das ich vertrauen kann.“
Dieser Text ist in ausführlicher Form erstmals in der Ausgabe 4/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie pro kostenlos hier.
Von: Anna Lutz