„Versöhnung ist zuerst die Einsicht, dass wir morgen miteinander leben müssen, egal, was gestern geschehen ist, und egal welche Gefühle uns bestimmen, seien es Wut oder Scham oder Schuldgefühle – nur so beginnt der Weg zum Frieden.“
Der Mann, aus dessen Mund wir diese Worte hören, Dr. Antoine Rutayisire, ist selber ein „Surviver“, ein Überlebender des Genozids von 1994. Mehr als eine Million Menschen waren binnen kürzester Zeit bestialisch ermordet worden, eine weitere Million wurde vertrieben – bei einer Einwohnerzahl von gerade einmal sieben Millionen Menschen.
„Bist du ein Tutsi?“, frage ich unbedarft. Antoine lächelt milde, und antwortet sehr bestimmt: „Diese Kategorien verwenden wir nicht mehr – alle Bürger sind Ruander. Die Einteilung der Menschen in Hutu, Tutsi und Twa geht auf die Kolonialherren zurück, traditionell gab es diese Gruppen oder Stämme nicht. Erst waren es die Deutschen, die im Zuge der Rassenideologie des 19. und 20. Jahrhunderts die körperlichen Merkmale ausgemessen haben und dann die Menschen in Gruppen einteilten, später sortierten die Belgier die Menschen nach ihrem Besitz.“ Er macht eine Pause und sieht mir direkt in die Augen. „Wer Frieden will, darf Menschen nicht in Rassen einteilen oder die Menschenwürde vom sozialen Status abhängig machen.“
Dr. Antoine Rutayisire, Jahrgang 1958, ist anglikanischer Geistlicher. 15 Jahre lang war er Vizepräsident der staatlichen und Vorsitzender der kirchlichen Versöhnungskommission. Seine Erfahrungen hat er in dem Buch „Reconcilation is my Lifestyle“ („Versöhnung ist mein Lebensstil“) festgehalten. Gemeinsam mit einer internationalen Gruppe von Tearfund-Leitern, treffe ich Antoine in Kigali, der Hauptstadt von Ruanda. Wir kommen im April, während des „Memorial Month“, des Gedenkmonats, in dem vier Wochen lang unter dem Motto: „Remember, unite, renew – erinnern, vereinen, erneuern“ an das Geschehen erinnert wird.
Kigali ist eine der sichersten Städte in Mittel- und Ostafrika. Auch Weiße können abends durch die Straßen spazieren. Wie kann das sein, 30 Jahre nachdem hier ein Völkermord tobte?
Ohne Aufklärung gibt es keinen Neuanfang
„Wir haben einen sehr langen und gründlichen Prozess hinter uns. Versöhnung braucht Zeit, wir rechnen mit mindestens drei Generationen. Und sie beginnt mit Gerechtigkeit“, erklärt Antoine. Am Anfang habe der politische Wille zur Aufklärung gestanden.
Die Versöhnungskommission wurde eingerichtet. Diese studierte zunächst andere Fälle von Völkermord aus der Geschichte: durch die Nazis, die roten Khmer in Kambodscha oder die Serben an den Bosniern. Eine Erkenntnis war: Ohne Aufklärung gibt es keinen Neuanfang. Jeder Anzeige wurde nachgegangen. Doch die Justiz konnte die große Anzahl von Verfahren kaum bewältigen. Wie ist es doch gelungen? „Wir hatten internationale Hilfe bei den Kapitalverbrechen wie Mord oder Vergewaltigung.“ Um die anderen Fälle aufzuklären, wurden in den Dörfern die von den Kolonialherren verbotenen Gacaca-Gerichte wieder eingeführt, traditionelle Ältestenräte, deren Aufgabe es war, in öffentlichen Verfahren zwischen Tätern und Überlebenden Ausgleichszahlungen zu vermitteln. Bis 2015 wurden so zwei Millionen Fälle geschlichtet.
Auch die Kirchen waren aktiv: Sie riefen alljährlich im April zu einer nationalen Gebets- und Fastenwoche auf, quer durch alle Konfessionen. Außerdem initiierten sie Initiativen an der Basis der Gemeinden. Denn um Versöhnung praktisch werden zu lassen, braucht es nicht nur die „großen“ Aktionen der Politik und der Kirchen, sondern auch die vielen „kleinen“ Aktivitäten.
„Peace Champions“ für Traumatisierte
Und damit sind wir bei Penina Rutayisire, Antoines Ehefrau. Die sechsfache Mutter nimmt nach dem Genozid vier verwaiste Kinder in die Familie auf. Obwohl sie mit den Sorgen um die tägliche Existenz beschäftigt ist und ihr Mann neben der Gemeindearbeit häufig zu Gremien-Sitzungen reisen muss, absolviert sie einen Kurs als „Peace-Champion“. „Ich wusste, dass es jetzt auf jede und jeden Einzeln ankommt, wenn wir Versöhnung erreichen wollen.“
Die Ausbildung wird von verschiedenen internationale Hilfsorganisationen angeboten. „Peace Champions“ leiten kleine Gruppen, in denen traumatisierte Überlebende lernen, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Doch das ist nicht so leicht. In Ruanda ist häusliche Gewalt an der Tagesordnung, doch für Frauen gilt es als Tabu, über diese Erfahrungen zu sprechen. Penina und ihre Mitstreiterinnen wählen eine Methode, die zur Kultur ihres Landes passt: Sie laden Frauen ein, um in kleinen Gruppen Körbe zu flechten, eine alte dörfliche Tradition. Diese Körbe werden mit einem Deckel verschlossen, ein Symbol für das gesellschaftliche Tabu. Während der Arbeit heben die „Peace Champions“ den Deckel von ihrem Korb, und beginnen ihre eigene Geschichte zu erzählen. Bald lauschten die Frauen gespannt, und die ersten begannen, sich ebenfalls zu öffnen. Durch diese Selbsthilfegruppen kamen viele Verbrechen ans Tageslicht und das trug erheblich zur Aufarbeitung bei. Die Frauen erlebten Gerechtigkeit – und Heilung. Die Körbe bekamen über die Jahre den Namen „Peace Baskets“.
Bewegt hören wir Ehepaar Rutayisire zu. Unvermittelt fragt Penina mich nach meiner Familiengeschichte. Ich erzähle ihr vom Zweiten Weltkrieg und von der Flucht meiner Mutter aus Litauen. Von den seelischen Wunden, die sie mitbrachte, und die zeitlebens unsere Familie geprägt haben. Vorsichtig nimmt Penina meine Hand. Wärme durchflutet mich. Wir brauchen keine Worte, um uns zu verstehen. Traumata ziehen sich über Generationen, in Ruanda und in Deutschland. Doch nur Versöhnung öffnet einen Weg in die Zukunft. Und dafür braucht es Menschen wie Antoine und Penina.
Zur Person
Uwe Heimowski ist Leiter der christlich-humanitären Hilfsorganisation „Tearfund“ und Mitglied des Vorstandes der Christlichen Medieninitiative pro, die auch das Christliche Medienmagazin PRO herausgibt. An dieser Stelle schreibt er einmal im Monat darüber, was er mit Menschen aus aller Welt erlebt.
Von: Uwe Heimowski