Passionsspiele treffen auf Multimedia

Regisseur Kay Voges bringt Menschen den biblischen Stoff auf großer Bühne nahe und inszeniert am Stuttgarter Staatstheater – zugleich spektakulär wie unorthodox – „Das 1. Evangelium“, frei nach dem Evangelisten Matthäus. Dabei hatte er sich in seiner Jugend in einer theatralischen Aktion vom Religiösen losgesagt.
Von PRO
Das Theaterstück „Das 1. Evangelium“ erzählt die Geschichte vom Dreh eines Jesus-Films in zahlreichen Kulissen. Das Stuttgarter Schauspielhaus zeigt damit ein multimediales Spektakel.

Bei Maria setzen die Wehen ein. Mit voller Inbrunst reiht sie die Namen des Stammbaums Jesu aneinander: „Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder“, stöhnt sie von Krämpfen geplagt. Sie scheint nicht mit der Geburt gerechnet zu haben, trägt sie doch noch ein Handtuch, wahrscheinlich nach dem Haarewaschen, um den Kopf gewickelt. „Juda zeugte Perez und Serach mit der Tamar. Perez zeugte Hezron. Hezron zeugte Ram.“ Anfangs keucht sie erschöpft, später schreit sie vor Geburtsschmerzen. Bis sie bei Jakob, dem Vater von Josef, ankommt. Das wiederholt sie einmal. Dann kommt in einem Kraftakt Jesus zur Welt – in einem schäbigen Wohnwagen. Josef schneidet die Nabelschnur durch. Und Schnitt – die erste Szene ist im Kasten.

Direkt am Anfang des Stücks „Das 1. Evangelium“ frei nach dem Matthäus-Evangelium erlebt der Anwesende im Schauspielhaus Stuttgart die Niederkunft Marias. Inszeniert hat das Werk der Regisseur Kay Voges. Er ist fasziniert von biblischem Stoff: „Ich bin ein großer Fan der Bergpredigt, weil ich in ihr den Grundstein des Humanismus oder der Aufklärung sehe. Unsere abendländische Kultur hat ihr Fundament im Neuen Testament.“ Am 19. Januar feierte das Stück Premiere.

Vergebliches Warten auf Heilsbotschaften

Voges bringt das Werk als Multimedia-Spektakel des modernen Theaters auf die Bühne. Live-Kameras übertragen Bilder von unterschiedlichen Schauplätzen der sich andauernd bewegenden Drehbühne auf drei Leinwände. Der Regisseur reiht dank der beweglichen Bühne immer wieder neue biblische Bilder aneinander. Die Haupthandlung im Stück ist der Dreh eines Jesus-Films: Der junge Regisseur Fred (Paul Grill) will ein monumentales Werk schaffen und scheitert immer wieder an seinen Ansprüchen. Die gedrehten Szenen bringen den Bibelstoff auf immer wieder andere modern-aparte Weise rüber. Das letzte Abendmahl gibt es etwa in einem American Diner. Vieles passiert auf der Bühne gleichzeitig. Der Zuschauer kann und soll daraus neue Zusammenhänge herstellen, alt eingeschliffene, gelernte Bilder hinterfragen.

Der Regisseur Kay Voges inszenierte erstmals am Staatstheater Stuttgart. Er ist zudem Intendant am Dortmunder Schauspielhaus. Foto: Birgit Hupfeld
Der Regisseur Kay Voges inszenierte erstmals am Staatstheater Stuttgart. Er ist zudem Intendant am Dortmunder Schauspielhaus.

Auch Jesu Versuchung in der Wüste kommt in Stuttgart auf die Bühne. Dabei spricht Jesus-Darstellerin Julischka Eichel zuerst Jesus-Worte und im Anschluss nach einer schizophren anmutenden Wandlung keift sie die Worte des Teufels: „Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine Brote werden!“ Im Stück wird Jesus einmal von einer Frau gespielt, dann von einem Mann. Der Darsteller von Johannes dem Täufer (Peer Oscar Musinowski) trägt beim Jesus-Film-Dreh Dreadlocks und tauft in einem Bassin auf der Bühne. Weil er sich von Regisseur Fred nicht genug gewürdigt fühlt, rastet er aus – und seine Schauspielfreundin schubst ihn in das Becken. Wasser spritzt. Ein paar Nackte fehlen im Stück auch nicht. Nacktheit ist beim modernen Theater schon fast etwas Klischeehaftes geworden.

Dieser Theaterabend in Stuttgart fasziniert die einen, die anderen schreckt er ab. Für den zart besaiteten Zuschauer ist er nichts. In jedem Fall setzt er Bibelwissen voraus, um die Szenen einordnen zu können. Wer allerdings auf Heilsbotschaften wartet, tut dies vergeblich.

Regisseur wirft Bibel durch die Kirche

Der sakrale Inhalt ist für den 45-jährigen Voges kein Neuland. Bereits 2000 schrieb er sein erstes Passionsspiel und inszenierte es in Oberhausen. „Ich dachte, 18 Jahre später könnte man noch einen zweiten Versuch machen.“ Der Regisseur ist mit dem Glauben aufgewachsen. Er habe eine „starke, religiöse Sozialisation genossen“, erzählt er im Gespräch mit pro in der Theaterkantine. Er predigte, war in Freikirchen aktiv, hielt Kindern im Ferienlager Bibelstunden, beteiligte sich an Missionseinsätzen von „Jugend mit einer Mission“. Gar mit einem Holzkreuz stand Voges in Amsterdam auf der Straße und habe „die Wahrheit gepredigt“.

Was ihn damals bewegte, schildert Voges mit den Worten Goethes: „Ich wollte erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält.“ Der Gedanke an einen Gott, der ihn behütet, der ihn befreit, „das war ein schöner Glaube“. Allerdings wandelte sich dieser für Voges „nach und nach in Fundamentalismus“. Jesus sagt: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Diesen Satz konnte der Regisseur nicht mehr leben. „Er wurde mir zu ausgrenzend.“ Er konnte den Absolutheitsanspruch, den das Christentum von Glaubenden einfordere, nicht länger umsetzen: „Ich kann und will gar nicht dem Anspruch genügen, den ich mir selber predige, weil ich das Gefühl habe, das ist lebensfern, was ich von mir erwarte.“ Zunehmend sah er es als anmaßend an, wie er den Menschen sagte, wie die Welt funktioniere. „Weil ich andere Religionszugehörigkeiten auf einmal ausgrenzte. Weil ich Nicht-Gläubige ausschloss, permanent in eine Verurteilung hineinkam.“ Den christlichen Glauben als einzige Antwort auf alle Fragen zu sehen, war für ihn die „absolute Radikalität“.

„Ich bin ein großer Fan der Bergpredigt. […] Unsere abendländische Kultur hat ihr Fundament im Neuen Testament.“ Kay Voges

Und so wandte er sich, genauso radikal, wie er sich engagiert hatte, mit 17 Jahren theaterreif vom christlichen Glauben ab. In einem Gottesdienst, in dem Gemeindemitglieder predigen durften, sprach er über einen Text aus der Offenbarung: „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist. […] Weil du lau bist […], werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Er sagte von der Kanzel aus: „Dann bin ich lieber kalt, als dass ich permanent mit dieser Schuld herumlaufe.“ Er nahm seine Bibel, warf sie durch die Kirche und konstatierte: „Und deswegen werde ich diesen Raum nicht mehr betreten.“ Dann ging er durch den Mittelgang ab und „ward nicht mehr gesehen“, erinnert sich Voges. Das war eine Zäsur in seinem Leben – „mit Pauken und Trompeten“ gesetzt.

Schon damals wusste er: „Jetzt geht die Suche auf andere Art und Weise weiter, und vielleicht ist ‚weiter‘ weniger zielorientiert und mehr erlebnisorientiert.“ Antworten auf die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, suchte er seitdem „nicht im apollinischen Wege“, wie er sagt, also geordnet und maßvoll, sondern im dionysischen: rauschhaft, im Widerspruch, im Zweifel, im Scheitern. Dort könne er dem Kern „vielleicht ein bisschen näherkommen“. Da sei die Kunst der Ort, an dem er mehr Freiheit hat und an dem „Nichtwissen stattfinden darf“.

Bibelstunde im Theater

Voges, der auch Intendant am Dortmunder Schauspielhaus ist, gibt dem Publikum in seiner eher unorthodoxen Inszenierung des „1. Evangeliums“ nicht die eine Interpretation. Er möchte dem Zuschauer ein Angebot zum Nachdenken geben, was jeweils das persönliche Bild des Glaubens ist, eine Möglichkeit zum Zustimmen, Ablehnen, zum Zweifeln und zum Neuverknüpfen von Zusammenhängen. Das Theaterensemble hat sich in der Probenarbeit auf besondere Weise mit der Bibel auseinandergesetzt und darüber improvisiert: „Wir haben uns jeden Morgen – was im Theater sehr unüblich ist – zur Bibelstunde getroffen und versucht, diese Texte zu verstehen.“

Die Gegenwart habe ein Glaubensproblem, meint Voges. Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen stünden sich gegenüber. „Dann gibt es die Glaubenskriege und -kämpfe“, eine Perspektive werde gegen eine andere gesetzt. Voges wählt einen anderen Weg: „Wenn wir zwei Perspektiven aufeinander setzen würden, entsteht eine dritte.“ Damit orientiert er sich am französisch-schweizerischen Regisseur Jean-Luc Godard, der sagte, wenn man zwei Bilder zusammenpackt, entsteht ein drittes. Dadurch gehe Klarheit verloren, und „wir fänden Zweifel und die Poesie und den Widerspruch“, erklärt Voges. „Den Widerspruch als Schönheit zu betrachten und die Komplexität als Reichtum, das sind Dinge, an die ich glaube.“ Aus diesem Grund mache er diesen Theaterabend.

Kakophonie der Gegenwart

Die Komplexität äußert sich in dem Stück in der Wort-, Geräusch- und Bildgewalt. Schauspieler rezitieren „Das Hohelied der Liebe“, das „Vater Unser“, laut und leise, murmelnd durcheinander, die Seligpreisungen; die Kreuzigungsszene wird wiederholt. Die Flut der Eindrücke prasselt auf das Publikum ein. Das kann den Theaterbesucher mitunter überfordern – und das ist auch so gewollt: „Wenn man es da schafft, sich zu entspannen und zu sagen ,dann ist das eben zu viel‘, dann werde ich selber selektieren und mich treiben lassen. Ich muss nicht verstehen, ich muss nicht bewerten, sondern ich darf sein. Vielleicht sehen wir dann die Kakophonie der Gegenwart als eine Symphonie an, in der wir meditieren können, und nicht mehr als einen Angriff auf uns.“

In „Das 1. Evangelium“ übertragen Live-Kameras Bilder von unterschiedlichen Schauplätzen der Drehbühne auf mehrere Leinwände Foto: JU, Schauspielhaus Stuttgart
In „Das 1. Evangelium“ übertragen Live-Kameras Bilder von unterschiedlichen Schauplätzen der Drehbühne auf mehrere Leinwände

In einer Szene stehen Jesus und Johannes der Täufer vor schnöden schwarzen Wänden. Die Live-Kameras fangen dies ein und die Bilder flimmern in Nahaufnahmen über die Leinwände auf der Bühne – inklusive Farbkorrekturen, Nebel und mit pompöser Musik: Sie bilden etwas ab, was so in Wirklichkeit gar nicht stattfindet, eine Ikonographie. Es ist Voges ein Anliegen, dass der Zuschauer unterscheiden lernt zwischen der Wirklichkeit und dem Bild davon, „und dass das Bild auch immer nur eine Perspektive ist, die etwas erzählen will, aber nur eine Krücke von Wahrheit ist“.

Voges begibt sich mit dem Stück auch auf die Spuren von Johann Sebastian Bachs Passionsmusiken – die beim Theater-abend neben REMs „Losing My Religion“ oder dem Serien-Intro von „Homeland“ erklingen. Und er verweist auf Pier Paolo Pasolini und dessen Verfilmung „Das 1. Evangelium – Matthäus“ von 1964. Wo der kommunistische und atheistische Pasolini wortgetreu auf der Grundlage des Matthäus-Evangeliums die Geschichten von Jesus nacherzählt, will Voges viele Möglichkeiten aufzeigen, wie es sein könnte, und sich nur nicht festlegen. Jedoch: „Es ist wichtig, sich bewusst mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen“, macht der Theatermacher seinen Punkt.

Die nächsten Aufführungen des Stückes finden am kommenden Sonntag, den 4. März, Sonntag, den 18. März, und Donnerstag, den 29. März, statt.

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 1/2018 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

Von: Martina Blatt

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