Auf den ersten Blick geht das Leben weiter wie immer. Doch wer in diesen späten Novembertagen durch die Straßen von Paris geht, entdeckt schnell, dass vieles anders ist. Keine zwei Wochen nach den islamistischen Attentaten reagieren viele Menschen verstört, verunsichert und irritiert. An vielen Plätzen der Stadt zeigen sie offen ihre Trauer. Und ihr Unverständnis über den gewaltsamen Tod von 130 Menschen.
Ein junges Mädchen kniet vor dem Kerzen- und Blumenmeer einer Straßenecke an der Rue Bichat nieder. Hier ermordeten am 13. November einige der Attentäter von Paris viele Restaurantbesucher.
Wer in diesen Tagen in Frankfurt, Gleis 19, in den ICE 9554 einsteigt, braucht keine Reservierung: Nach Angaben von Reiseveranstaltern haben 25 Prozent der Paris-Touristen ihre Reisen kurzfristig storniert. In der 2. Klasse ist das Platzangebot sehr großzügig. Im Zug ist zunächst alles unauffällig. Kinder lachen, ihre Mutter liest Bilderbücher vor. Doch dann solche Durchsagen: „Wir bitten um Ihr Verständnis, dass verstärkte Personenkontrollen zu Ihrer Sicherheit nötig sind.“ Und: „Bitte halten Sie Ihre persönlichen Ausweispapiere ständig bereit wegen erhöhter Sicherheitsanforderungen.“ Ein paar Minuten hinter der Staatsgrenze streifen französische Polizisten begleitet von deutschen Kollegen durchs Großraumabteil. Zu zweit fordern sie mehrere arabisch aussehende Männer auf, ihre Plätze zu verlassen und ihnen zu folgen. Die jungen Männer gehen lachend mit. Einige Fahrgäste schauen hinter ihnen her.
Abends an der berühmten Pariser Diplomatenmeile Quai d‘Orsay. Am anderen Ufer der Seine schimmert das Stahlgerippe des Eiffelturms in indigo-blau. Kilometerweit streifen Richtstrahlen durch den Novemberhimmel. In der Nähe der Pont d’Alma tanzen Lichtreflexe auf den Wellen. Nicht einmal zwei Wochen ist es her, als hier alles dunkel war. Am Freitagabend, dem 13. November, hatten islamistische Attentäter innerhalb von nur 33 Minuten im Norden und im Osten der Innenstadt beispiellose Blutbäder angerichtet. Mit automatischen Waffen, Sturmgewehren und Sprengstoffgürteln nahmen drei Killerkommandos an sechs Standorten gezielt wehrlose Zivilisten ins Visier. Sie schlugen dort zu, wo die Menschen Freizeit, Vergnügen, Erholung genießen: am Fußballstadion, in Bars und Bistros sowie im Musikclub Bataclan, wo allein 79 Menschen starben. Insgesamt kamen 130 Menschen ums Leben, die meisten waren zwischen 18 und 40 Jahren alt, 350 Personen wurden verletzt.
Zehn Tage danach. Fußgänger hasten durch die Innenstadt. Wenn kein Auto kommt, eilen sie konsequent bei Rot über die Straße. Und wenn grün ist, kann trotzdem ein hupender Wagen kommen – die Fahrer sind ja auch in Eile. So ist das immer in Paris. Doch vieles ist anders in diesen Tagen vor dem 1. Advent. Mit hoher Geschwindigkeit braust ein kleiner Citroën mit Blaulicht heran, eine Zivilstreife mit heulender Sirene. Die Wahrscheinlichkeit, dass es um normale Metropolen-Kriminalität geht, ist sehr hoch. Mehrere Passanten bleiben stehen, schauen dem Auto nach. Eine Mutter von zwei Schulkindern verlässt ihr Haus im 16. Arrondissement. Ein paar Schritte entfernt, an der Avenue Kleber, will sie ihren Mittagssnack besorgen. Als sie die Straße überquert, blickt sie zuerst angestrengt nach Norden, dann schnell in südliche Richtung: „Was macht denn die Polizei da schon wieder?“, sagt sie.
Schutzgitter an Schulen und Kindergärten
An die schwer bewaffneten und mit kugelsicheren Westen ausgestatteten Polizei-Patrouillen und Soldaten im Stadtgebiet haben sich Pariser bereits seit dem 7. Januar gewöhnt: Islamisten hatten Redaktionsmitglieder der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo regelrecht hingerichtet. Auf der Flucht erschossen sie Juden in einem koscheren Supermarkt. Ein erster spürbarer Einschnitt. Doch jetzt sind wahllos Zivilisten im Alltag ermordet worden. Viele kannten eines der Opfer oder sind mit Angehörigen befreundet. An Schulen und Kindergärten werden während der Unterrichtszeit Schutzgitter heruntergelassen. „Paris scheint so sicher zu sein, wie nie zuvor“, sagt die Frau. „Aber es fühlt sich nicht so an.“
Ein nächtlicher Streifzug, Nähe Ostbahnhof. Über die geschwungene Fußgängerbrücke überquert man den Canal Saint Martin. Hier, in den winkeligen, engen Straßen leben kleine Angestellte, Arbeiter, Immigranten. Die Cafés sind an diesem Abend spärlich besucht. An einer engen Dreistraßenecke an der Rue Bichat stehen viele Menschen. Autos halten mit Warnblinker. Hunderte Kerzen flackern am Boden. Etliche Flammen hat der Wind ausgepustet, dazwischen stehen kleine Tricolore-Flaggen. Ein Meer von Blumensträußen in Schutzfolien bedeckt den Gehsteig. Dazwischen stecken oder kleben Briefe und Fotos in Klarsichthüllen, handgeschriebene Gedichte, Gebete. Und immer wieder die Frage: „Warum?“ Es ist ein Ort der stillen Trauer, des Gedenkens und des Mahnens.
Alle Türen und Fensterläden der Bar Le Carillon und an dem gegenüberliegenden Restaurant Le Petit Cambodge sind verriegelt, als seien sie seit Jahren pleite. An dieser Ecke hielt am 13. November das Auto eines der Terrorkommandos. Es war 21.25 Uhr, als die Attentäter „Allah ist groß“ riefen und das Feuer auf die Restaurantgäste eröffneten. Allein hier starben 15 Menschen. Ein Opfer hatte noch seine Hand am Trinkglas auf dem Tisch. Auf der Tafel neben der Tür des Le Carillon steht noch immer der mit Kreide geschriebene Rabatthinweis für die „Happy Hour“. Ein junges Mädchen kniet vor den Kerzen und bekreuzigt sich. Auf mehreren Fotos, die hier abgelegt sind, sind im flackernden Lichtschein lächelnde Mädchen zu sehen. Und überall handgemalte Herzen und Kreuze. Auch Familien mit Kindern sind gekommen. Daneben steht ein Mann asiatischer Herkunft. Minutenlang ist er mit geschlossenen Augen innig ins Gebet vertieft. „Pray for Paris“, steht auf einem Plakat gegenüber.
Pfarrer: „Die Anspannung ist zu spüren“
Zwei Straßenecken weiter ein ähnliches Bild: Nur sieben Minuten nach dem Massaker an der Rue Bichat starben hier vor dem Café Bonne Bière und beim nahen Casa Nostra weitere fünf Menschen. Die McDonalds-Filiale gegenüber wurde verschont. Ein älterer Mann legt frische Blumen nieder. Längst herrscht dort wieder reger Betrieb. Die schriftlichen Botschaften an diesem Tatort sind sehr politisch. „Daesh“ (die arabische Bezeichnung für den „Islamischen Staat“) „ist der „Republikfeind Nummer 1“, steht auf einem Schild. Nie werde sich das moderne Frankreich dem menschenverachtenden Terror des IS beugen. An einem Straßenschild befestigt ein jüngerer Mann ein Spruchband: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, steht dort. Den Werten der Aufklärung und der Französischen Revolution gehöre der ewige Sieg.
In der Metro fahren weniger Menschen als sonst. „Nach meinem Eindruck ist da eine deutliche Unsicherheit bei vielen. Die Menschen fragen sich: Was geschieht als nächstes?“, sagt Wolfgang Sedlmeier. Der 57-jährige katholische Theologe lebt seit neun Jahren hier. Gerade im Kontakt mit Jugendlichen beobachtet der Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde: „Da fehlt eine gewisse Leichtigkeit und Lockerheit. Man spürt die Anspannung.“ Das „böse, böse Wort vom Krieg“ von Staatspräsident François Hollande findet er hingegen „wenig hilfreich“. Überall im Land hat die Regierung, für jeden sichtbar, den Ausnahmezustand verhängt. Das Fernsehen berichtet ausführlich über die Angriffe, die Mirage-Jets vom Flugzeugträger Charles de Gaulle aus gegen IS-Stellungen fliegen. Dazu sagt Sedlmeier: „Wir dürfen natürlich auch nicht bagatellisieren.“ In seinen Gebeten, Gesprächen und Predigten spricht er das Thema, das alle bewegt, offen an.
Besonders wichtig sei es, auf die Fragen der Kinder einzugehen. Als Erbe der Kolonialzeit sind zehn Prozent der Einwohner Frankreichs Muslime (Deutschland: rund fünf Prozent). „Für französische Familien ist es durchaus normal, Schwiegerkinder aus Algerien, Marokko, dem Libanon oder Syrien zu haben“, sagt Sedlmeier: „Deshalb sehen die allermeisten dieses Thema differenziert.“ Aber es sei auch eine neue Nachdenklichkeit da: „Die Taten, die geschehen sind, sind ungeheuerlich. Vielleicht haben es viele nicht wahrhaben wollen, dass es auch diese erschreckende Seite gibt“, sagt er. Als Christ ist ihm gerade zum Advent wichtig, dass Jesus sagt: „Fürchtet euch nicht.“ Ganz wichtig sei ihm, „dass gerade jetzt der Himmel offen bleibt und dass wir dem liebenden Gott, dem Vater Jesu Christi, vertrauen. Das Heil ist den Menschen zugesagt. Und es ist nicht naiv, daran zu glauben!“
Am Platz der Republik tauchen TV-Scheinwerfer das Denkmal der Jeanne d’Arc in kaltes, gleißendes Licht. Im Schatten flackern auch hier hundertfach Kerzen inmitten von Blumen. Hierhin zieht es die Menschen. Eine Schülerin hat ihre Tasche auf dem Boden abgelegt. Sie trägt Ohrstöpsel und blickt versonnen ins warme Kerzenlicht. Minutenlang sortiert sie die Kerzen am Boden, zündet neue an und formt aus Teelichtern ein Herz. Auf einem Plakat über ihr steht: „Wir haben keine Angst!“ Nein, ängstlich wirken die vielen Menschen hier nicht. Auch nicht zornig oder aggressiv. Sie blicken mit wachen Augen. Und sie sind sehr still, in sich gekehrt, nachdenklich. (pro)
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