Der Religionsunterricht sei das einzige Schulfach, das ausdrücklich im Grundgesetz erwähnt werde, und zwar im Artikel 7, klärt Heinig auf, der den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Kirchenrecht und Staatskirchenrecht in Göttingen innehat. Das Grundgesetz lege fest, dass der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ein ordentliches Lehrfach sein soll, dass die Erziehungsberechtigten bis zur Religionsmündigkeit über die Teilnahme bestimmten, und dass kein Lehrer gezwungen werden dürfe, Religionsunterricht zu erteilen.
Den konkreten Unterrichtsinhalt aber bestimmten Religionsgemeinschaften und nicht der Staat. Sie befänden zudem über die religiöse Befähigung des Lehrpersonals. „Der Staat des Grundgesetzes ist offen für die Religionen seiner Bürger, gerade damit er selbst nicht religiös oder weltanschaulich wird“, erklärt Heinig. Doch die „empirische Ausgangslage“ habe sich seit der Verabschiedung des Grundgesetzes grundlegend verändert, konstatiert Heinig.
„Die Volkskirchen schrumpfen, die Zahl der Konfessionslosen steigt, und Migrationsbewegungen haben zu einer neuen Qualität religiöser Vielfalt geführt.“ Nur noch zwei Drittel der Schüler aus den Klassen eins bis zehn nähmen am evangelischen oder katholischen Religionsunterricht teil. 24 Prozent besuchten ein Ersatzfach wie Ethik oder Philosophie. Insgesamt falle es in beiden konfessionellen Religionsunterrichten immer schwerer, die notwendigen Schülerzahlen und Lehrpersonal zusammenzubringen. Immer mehr komme es zu kooperativem Unterricht beider Konfessionen.
„Religionsunterricht ist heute Kummerstunde“
Auch inhaltlich habe sich der Religionsunterricht geändert. „Religionsunterricht, das ist heutzutage zu weiten Teilen von Lehrern begleitete individuelle Sinnsuche der Schüler, das Aufspüren impliziter religiöser Erfahrungen im Alltag der Heranwachsenden oder schlicht die Kummer- und Kümmerstunde im hektischen, von Prüfungsstress geprägten Schulalltag“, kritisiert Heinig.
Insgesamt habe sich der Religionsunterricht in der Praxis weit von dem entfernt, was das Bundesverfassungsgericht Ende der 1980er Jahre darüber schrieb: „Sein Gegenstand sei der Bekenntnisinhalt, die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft in ihrem religiösen Wahrheitsanspruch.“ Dies sei etwas anderes als das, was heute Praxis sei, nämlich „die überkonfessionelle, vergleichende Betrachtung der verschiedenen Religionsgemeinschaften, Morallehre und Sittenunterricht“ oder das Fach „Kulturgeschichte des Christentums“.
Das aber bedeute, dass die Rechtfertigung für den Staat, mit Religionsgemeinschaften zusammenzuarbeiten, zunehmend wegfalle. „Religionskunde und Ethikunterricht kann er auch in eigener Verantwortung im Klassenverband betreiben. So spart er viel Geld und Aufwand“, schreibt Heinig.
Heinig betont: „Die Kirchen verkennen ihre Rolle in der modernen Gesellschaft, wenn sie sich als Bundeswerteagenturen gerieren. Ebenso geht der Religionsunterricht fehl, wenn er vor allem sich für zuständig hält, Sitte und Anstand in der Schule zu heben.“ Zukunft habe der Religionsunterricht nur, „wenn er mehr als Ethik, Religionskunde und Glückskeksweisheiten bietet“.
Von: Jörn Schumacher