Grundschüler können einem altersgerechten Sexualkundeuntericht nicht fernbleiben. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geurteilt. Auslöser für die Debatte war ein neues Konzept von Pädagogen der Stadt Basel. Sie hatten 2011 einen „Sexkoffer“ für den Unterricht entwickelt, die den Pädagogen als Hilfsmittel im Aufklärungsunterricht dienen sollten.
Eine Mutter hatte dagegen geklagt. Sie sei nicht generell gegen Sexualerziehung, aber der Aufklärungsunterricht in der zweiten Klasse komme zu früh. Damit werde ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Die Auseinandersetzung mündete in das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er wies die Klage der Frau als unbegründet zurück. Der Sexualkundeunterricht diene dazu, Kinder vor sexueller Gewalt und Ausbeutung zu schützen.
Kinder auf soziale Realitäten vorbereiten
Die Tageszeitung Die Welt schreibt, dass die Lehrer in der Schweiz gehalten seien, „ausschließlich auf Fragen der Kinder einzugehen“. Der Unterricht sei daher nicht „systematisch“ und stehe nicht im Widerspruch zum Recht der Eltern, selbst für die Aufklärung der Kinder zu sorgen. Staatliche Erziehung müsse die Kinder auf die sozialen Realitäten vorbereiten. Das Recht der Eltern, selbst für die Aufklärung der Kinder zu sorgen, werde damit nicht unzulässig verletzt.
Die Mutter hatte sich zunächst bei der Schule beschwert. Sie lehnte das Ansinnen ebenso ab, wie später sämtliche Schweizer Gerichte. Die Straßburger Richter urteilten, dass Lehrer nicht ihren Handlungs- und Erziehungsspielraum überschritten, wenn sie Fragen der Grundschüler zur Sexualität beantworteten. Die Beschwerde sei zudem unzulässig, weil die Tochter nie am systematischen Sexualkundeunterricht teilgenommen habe.
Damit stützt der Europäische Gerichtshof in letzter Instanz das Bundesgericht. Es hatte im November 2014 entschieden, dass der Unterricht für Primarschüler zumutbar ist. In deren Urteil hieß es, der umstrittene Unterricht greife zwar in das Erziehungsrecht der Eltern ein und tangiere ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit, hatte dies aber für gerechtfertigt gehalten.
Konfrontieren, aber nicht indoktrinieren
In der Schweiz hatte sich sogar eine Volksinitiative gebildet, die sich gegen den „Sexkoffer“ und die „Sexualisierung im Kindergarten und in der Primarschule“ (d. Red.: Schulen, die von Kindern der Klassen 1 bis 5 beziehungsweise 6 besucht werden) wandten. Sie wurde zurückgezogen, weil auch die „Sexkoffer“ wieder verschwanden. Es war bekannt geworden, dass der Kopf der Initiative Jahrzehnte zuvor wegen sexuellen Kontakts zu Minderjährigen verurteilt worden war. Politiker der konservativen Parteien geißelten die „Sexkoffer“ als „pornografisches Material“, das die Kinder verstöre und traumatisiere.
Der Zürcher Rechtsprofessor Johannes Reich sagt gegenüber der Berner Zeitung, dass das Urteil das Konzept der Bundesverfassung stütze, wonach das Recht auf Unterricht gleichzeitig auch eine Pflicht sei. Dennoch lasse sich eine Grenze ziehen, bis wohin Eltern Eingriffe in ihre Erziehungshoheit akzeptieren müssen. Reich umreißt die Grenze so: „Das Kind darf mit anderen Haltungen und Ansichten konfrontiert, aber nicht indoktriniert werden.“
Bereits 2011 urteilte der EGMR, dass Sexualkunde fester Bestandteil von Schullehrplänen sein darf. Damals hatten fünf Elternpaare aus Nordrhein-Westfalen geklagt. Sie lehnten sexuelle Aufklärung in der Schule grundsätzlich ab, der Unterricht sei nicht mit ihren religiösen Überzeugungen vereinbar. Die Kläger gehörten einer baptistischen Freikirche an.
Von: Johannes Weil