Ob Kinder sich wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen, hat nichts mit dem sozialen, ethnischen oder wirtschaftlichen Hintergrund der Familie zu tun. Aber ob sich Kinder wahrgenommen fühlen oder nicht, hat wesentliche Auswirkungen. Das erklärte Holger Ziegler, Professor für Soziale Arbeit an der Universität Bielefeld, als er am Dienstag die Ergebnisse einer Studie vorstellte.
Kinder, die sich beachtet fühlten, empfinden demnach das Verhältnis zu ihren Eltern als gut, wogegen Kinder mit einem Mangel an Beachtung häufiger das Gefühl von Geborgenheit vermissten. Fast jedes dritte Kind und jeder fünfte Jugendliche fühlt sich laut der Studie von seinen Eltern nicht oder zu wenig beachtet. Die Auswirkungen davon auf die Empathiefähigkeit von Kindern und Jugendlichen müsse Sorge bereiten, sagte Ziegler.
54 Prozent der befragten Kinder gaben an, dass sie sich in andere hineinversetzen können und mit ihnen mitfühlen. Bei den nicht beachteten Kindern sind es nur 40 Prozent, bei den Jugendlichen 29 Prozent. „Das Bild ist wahrscheinlich rosiger als es real ist”, gab Ziegler zu bedenken. Das liege an methodischen Schwierigkeiten dieser Studie: „Da, wo es überhaupt nicht klappt, finden wir schwieriger Zugang zu den Familien“, erklärte der Forscher.
Für die Achtsamkeits-Studie hatten Ziegler und sein Team im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung über 1.000 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren befragt. Achtsamkeit meint in der Studie die Zuwendung der Eltern zum Kind, verbunden mit einem wirklichen Interesse an dessen Bedürfnissen. Kinder fühlten sich durch viele Gesten wertgeschätzt, machte Studienleiter Ziegler deutlich.
Gemeinsame Unternehmungen gehörten ebenso dazu wie ein herzliches „Ich hab dich lieb“ oder ein ermutigendes Wort. Keinesfalls gehe es nur um besondere Events. „Ein gemeinsamer Hausputz kann mit Achtsamkeit und einer Liebe-Fürsorge-Beziehung mehr zu tun haben als ein Zoobesuch, wo man zusammen hingeht, aber jeder für sich allein ist.“
Weitere Ergebnisse der Studie
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Beschäftigen sich deine Eltern gern mit dir? 71 Prozent der Kinder, die sich nicht beachtet fühlen, konnten dieser Frage nicht zustimmen.
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78 Prozent der Kinder, die sich beachtet fühlen, gaben an, dass ihre Eltern ihre Gemütslage erkennen.
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Von den sich beachtet fühlenden Kindern erleben 81 Prozent, dass ihnen ihre Eltern etwas zutrauen. Von denen, die sich nicht beachtet fühlen, erlebt das nur etwa die Hälfte.
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Gut die Hälfte aller befragten Kinder ist mit sich und dem Leben im Allgemeinen zufrieden.
Siggelkow: „Beziehung und Liebe sind Schlüssel zum Herzen“
Positiv überrascht von den Ergebnissen ist Bernd Siggelkow, Gründer des christlichen Kinder- und Jugendhilfswerks „Die Arche“. Die Organisation ist in sozialen Brennpunkten tätig und Partner der Bepanthen-Kinderförderung. Zu den Erfahrungen aus seiner Arbeit passe das so nicht, sagte der frühere Jugendpastor bei der Vorstellung der Studie in Berlin. In die „Arche“ kämen vor allem Kinder, die sich nach Beachtung sehnten. Es überrasche sie, wenn Mitarbeiter sie am zweiten Tag schon mit ihrem Namen ansprächen.
„Wenn Eltern wenig Perspektiven haben, dann geben sie sich irgendwann auf“, erklärte Siggelkow. Viele Kinder, die die „Arche“ besuchten, bekämen daheim zu hören: Du kannst nichts, du bist nichts und aus dir kann nie etwas werden – „weil die Eltern das, was sie für sich sehen, an die Kinder weitergeben“. Diesen Menschen fehle nicht Geld, „sondern Perspektive und Würde“. Die Kinder blieben letztlich auf der Strecke, weil keiner hinter ihnen stehe, der sie fördere. Ihm sind Achtsamkeit und Zuwendung zu schwache Begriffe: „Der Schlüssel zum Herzen eines Menschen ist Beziehung und Liebe.“
Schirmherrin der Bepanthen-Kinderförderung ist die Familienberaterin Katia Saalfrank, die im Fernsehen einst als „Super Nanny“ in der gleichnamigen RTL-Pseudo-Doku Familien unter die Arme griff. Sie hat mittlerweile eine eigene Beratungspraxis. Ihr Ansatzpunkt liege vor allem darin, zu schauen, was dem Kind auf emotionaler Ebene fehlt: „Woran merkt das Kind jeden Tag, dass es für uns wertvoll ist?“
Familie nicht ersetzbar
Die größte Schwierigkeit sei es, in einer sehr schnelllebigen Welt zu leben, in der man immer erreichbar sein und vieles gleichzeitig machen müsse. „Ich fände es eine große Möglichkeit für Eltern, finanziell unterstützt zu werden, um Zeit mit den Kindern zu verbringen. Immer wieder neue Betreuungsmöglichkeiten zu finden, hat auch etwas sehr Trennendes. Es geht um Verbindungen“, betonte sie.
Viele Kinder und Eltern gingen morgens um acht aus dem Haus und sähen sich erst um vier Uhr nachmittags wieder. „Das ist sehr wenig Zeit, um Beziehung zu leben“, wandte Saalfrank ein. Es ginge nicht darum, perfekt zu sein, sondern die Bedürfnisse zu sehen. Sie möchte Eltern Mut machen und sie in dem bestärken, was sie in der Beziehung zu ihren Kindern herstellen können: „Eltern bringen alles mit. Es gibt nichts, was noch zusätzlich gebraucht wird, sie tragen einen Riesenschatz in sich.“
Ähnlich brachte es Studienleiter Ziegler auf den Punkt. Auf die Frage, was dagegen spräche, Familie abzuschaffen, war seine Antwort: Familie könne – anders als Institutionen – ein „Liebes-Fürsorge-Gut“ herstellen. „Die Erfahrung: ‚Ich bin unbedingt auf deiner Seite‘, die können nur Familien geben.“ (pro)
Von: cba